Lasst sie nicht

Lohnfortzahlung Eine Impfpflicht „durch die Vordertür“ wäre das Beste. Weil der Mut dazu fehlt, muss der Druck auf Nichtgeimpfte anderweitig erhöht werden
Ausgabe 38/2021

Wer „durch Inanspruchnahme einer Schutzimpfung (…) ein Verbot in der Ausübung seiner bisherigen Tätigkeit oder eine Absonderung hätte vermeiden können“, bekommt laut Paragraf 56 Absatz 1 Infektionsschutzgesetz keine Entschädigung für den Verdienstausfall. Die von einigen Bundesländern geplante Beendigung der Lohnfortzahlung für quarantänisierte Ungeimpfte ist gesetzlich gedeckt – und unvermeidlich, um die Pandemie zu bewältigen. Das Beste wäre eine Impfpflicht „durch die Vordertür“. Da der Mut dazu fehlt, ist es der zweitbeste Weg, an mehreren Punkten anzusetzen, um den Druck auf Impfunwillige zu erhöhen. Strikte 2G-Regelungen und ein Ende der Lohnfortzahlung für ungeimpfte Quarantänepflichtige bilden, systemtheoretisch gesprochen, fast ein „funktionales Äquivalent“ zur Impfpflicht – durch mehrere Hintertüren. Den Eiferern individueller Freiheit sei entgegnet: Der Schutz gegen gefährliche Viruskrankheiten ist keine Angelegenheit individueller Risiko-Abwägung wie etwa Krebs beim (aktiven) Rauchen oder Diabetes bei lebensstilbedingter Fettleibigkeit. Er ist ein Ergebnis kollektiver Leistung und Verantwortlichkeit, die der Staat als „Hüter des Gemeinwohls“ (Bundesverfassungsgericht) auch durch angemessene Verhaltenssteuerung durchsetzen muss. Die Impfung ist ja nicht nur Eigen- sondern auch Fremdschutz. Sie ist kein magischer Mantel, der den Körper umhüllt und Virenpartikel abprallen lässt. Auch Geimpfte können ansteckend sein. Doch dies ist gerade kein Argument gegen die Impfpflicht. Denn das bedeutet: Alle müssen zum kollektiven Schutz beitragen. Laut RKI ist bei vollständig Geimpften „in der Summe (...) das Risiko einer Virusübertragung stark vermindert“. Je mehr Menschen sich also impfen lassen, desto besser sind alle geschützt, gerade auch angesichts immer neuer Mutationen. Denn je infektiöser die umlaufenden Varianten sind, desto höher muss die Impfquote sein. Je mehr Infektionen und Wirte es gibt, desto mehr Gelegenheiten für Variationen hat ein Virus. Gegen eine Sigma-oder Psi-Variante könnten die bisherigen Impfstoffe gar nicht mehr wirken. Die Zeche für die großzügige Bewirtung des Virus zahlen Verletzliche, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen können.

Aus ethischer Sicht ist es eine höchst fragwürdige, unsoziale Haltung, die hinter der „Impfskepsis“ steckt. Zieht man diejenigen ab, die die Existenz oder Gefährlichkeit von SARS-CoV-2 aufrichtig bezweifeln oder an die Allmacht der Körperselbstheilungskräfte glauben, bleiben als Impfscheue nur diejenigen, die Neben- und Folgewirkungen für sich befürchten und „erst mal abwarten“ wollen. Nun heißt dies aber im Umkehrschluss nichts anderes, als dass sie das Risiko für sich senken wollen, indem sie andere vorschicken, um am Ende doch von Herdenimmunität zu profitieren. Bis dahin nehmen sie es mutwillig in Kauf, in ungeschützten Kontakt mit dem Virus zu kommen und es zu übertragen. Wenn sich jemand ohne medizinische Gründe trotz offizieller Empfehlung nicht impfen lässt, dadurch eine Quarantäne verschuldet und im Homeoffice seine Arbeitsleistung erbringt, bekommt er natürlich weiter sein Gehalt. Aber ein leistungsloses Einkommen muss ihm nicht gewährt werden. Impfstoff ist kostenlos verfügbar. Alle können einsteigen, statt auf dem Trittbrett zu fahren – die Tickets sind gratis. Wer aber dennoch aus der Solidargemeinschaft ausschert, sollte auch selbst (zumindest teilweise) die Kosten tragen: Gerechtigkeitstheoretisch ist das gut begründbar.

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Lesen Sie hier eine Gegenrede von Elsa Koester auf diesen Artikel

Roman Grabowski ist politischer Philosoph, Lehrer, freier Autor und Kommunalpolitiker der Linken in Berlin

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