Mäusepolizei und Mondrakete

VON PEENEMÜNDE NACH ANAHEIM Anmerkungen zum hundersten Geburtstag von Walt Disney

Mein erster Kinobesuch datiert auf einen Nachmittag des Jahres 1979. Eigentlich hätte Walt Disneys Bernhard und Bianca, die Mäusepolizei laufen sollen. Doch entweder hatten meine Eltern sich im Kinoprogramm verguckt oder der Spielplan war kurzfristig geändert worden: Es kam anders und die Figuren, die in den folgenden zwei Stunden die Leinwand bevölkerten, hießen nicht Bernhard und Bianca, sondern Bond und Beißer. Titel des Films: Moonraker - Streng geheim. Alleine die Szene, in der sich ein riesenhafter Muskelprotz lediglich an seinem Metallgebiss am Drahtseil einer Gondelbahn hält, war zuviel für die Nerven eines Neunjährigen in den Siebzigern. Trotzdem waren damit die Weichen gestellt, und ich habe seitdem keinen Disney-Film mehr im Kino gesehen. Erwachsene Menschen, die ihre Zeit freiwillig vor Zeichentrickfilmen verbringen, sind mir noch immer ein wenig suspekt.

Auch wenn es vielleicht etwas verschwörungstheoretisch klingt: Disneys Welt setzt ungefähr bei jenem Szenario an, das James Bond in Moonraker in letzter Sekunde verhindert.

Bonds milliardenschwerer Gegenspieler Drax plant einen kollektiven Genozid und baut ein riesiges Raumschiff, eine Arche, auf dem er zeugungsfähige Paare mit den besten Anlagen versammelt hat. Diese sollen nach einem vorübergehenden Exodus ins All auf die Erde, die inzwischen vollständig von menschlicher Population bereinigt ist, zurückkehren, um eine neue Herrenrasse unter Drax´ Herrschaft zu begründen.

Wenn glückliche Jungeltern ihre Sprößlinge beim Ikea-Einkauf im Kinderparadies abgegeben, überlassen sie sie der Obhut von Walt Disneys Dschungelbuch, und während Mama und Papa in der oberen Etage Kinderzimmermöbel aussuchen, werden die Kleinen darüber unterricht, dass selbst der Dschungel ein schreckensfreier Raum ist, in dem die monströsesten Tiere völlig unverhofft lustige Lieder anstimmen. Disneys Welt ist einfach zu schön um wahr zu sein.

Gut und schön, könnte man sagen, so ist nun mal die Unterhaltungsindustrie. Sie bietet werktätigen Menschen die Möglichkeit, ihren realen Alltagssorgen für eine begrenzte Zeit in eine bessere, fiktive Welt zu entfliehen. Doch Disneys Pläne reichten viel weiter. Sie zielten letztendlich auf das Verschwinden der Grenze zwischen Realität und Fiktion. Noch kurz vor seinem Tod im Jahre 1966 - Disneyland in Anaheim war längst realisiert und Disneyworld, Orlando, kurz vor der Fertigstellung - präsentierte Disney den Plan einer Stadt, die als solche funktionstüchtig und zugleich ein Zukunftsmodell sein sollte. EPCOT (Experimental Prototype Community of Tommorow) vereinte avantgardistische Technologiestandards mit einer, von den Übeln des urbanen Zusammenlebens befreiten, Sozialutopie: The need is not just for curing the old ills of old cities. We think the need is to start from scratch on virgin land and building a special kind of a new community. Der kreisförmige Grundriss der Stadt wird durch eine gigantische Glaskuppel von allen Außeneinflüssen, nicht nur denen des Wetters, abgeschirmt. Der Klimakontrolle entsprach eine genaue Reglementierung des Zusammenlebens in EPCOT. Walt Disney, der sich einmal als König von Amerika bezeichnet hat, beanspruchte wenigstens in diesem Rahmen die alleinige Entscheidungsbefugnis über die Belange der Einwohner. Haustiere waren ebenso verboten wie Alkoholismus, unehelicher Beischlaf und ein Abweichen von den Bekleidungsvorschriften. Regelverstöße führten zur Ausweisung aus der Stadt. Ein sorgfältiges Selektionsverfahren unter denjenigen, die sich um das Wohnrecht in EPCOT bewerben würden, sollte einen homogenisierten und störungsfreien Sozialverbund garantieren. Als leidenschaftlicher Hasser von Kommunisten und Gewerkschaften, die ihm beim großen Streik von 1941 arg zugesetzt hatten und angewidert von Rassenunruhen und der aufkommenden Hippiebewegung war Disney der Meinung, daß seine keimfreie Idylle nichts mit der Welt da draußen zu tun haben durfte.

EPCOT wurde in der geplanten Form zwar niemals verwirklicht, dafür aber ideell verwandte Wohnprojekte. In Nordflorida das Örtchen Seaside, weltbekannt geworden durch Peter Weirs Truman Show und die 1996 gegründete Gemeinde Celebration bei Orlando, ein Produkt der Walt Disney-Company, das sich ebenfalls auf das Modell einer idealen Stadt hin ausrichtet. In pittoresken Holzhäusern leben hier 20.000 Menschen, sorgsam ausgewählt aus einer endlosen Liste von Bewerbern. Solche konstruierte Idyllen werfen natürlich immer dasselbe Problem auf: Sie sind nicht weltumspannend und ihre Umgebung kann nur eine feindliche sein. Von Seaside und Celebration aus gesehen heißt der Rest der Welt Suburbia. Die fragile Geborgenheit der inneren Paradiese muss zu einer paranoiden Angst vor Angriffen von außen führen. Das noch immer ungelöste Sicherheitsproblem, beweisen nicht nur die Security-Maßnahmen einer jeden Shoppingmall, gerade erst hat die vorrübergehende Schließung von Disneyland nach den Attentaten vom 11. September das Dilemma in großem Maßstab vor Augen geführt.

Denkt man das von Disney mit angestoßene Konzept des New Urbanism zu Ende, stellt sich die Frage, ob der Planet Erde in der jetzigen Form überhaupt die geeignete Umgebung für derartige Bespielungen bieten kann. Anders als Drax in Moonraker muss Disneys Konzept - da es die Eliminierung der Weltbevölkerung nicht vorsieht - zumindest mit dem Vorhandensein einer potentiell unfreundlich gesonnenen Umgebung rechnen. Wäre es tatsächlich zum Bau gekommen, hätte die EPCOT-Architektur vielleicht ein wenig an ein riesiges UFO erinnert, stets zum Abheben bereit. Oder, konkreter, an den Entwurf einer Raumstation, den der Raketenforscher Wernher von Braun 1952 im populärwissenschaftlichen Collier´s Magazine vorgelegt hatte. Auch wenn Stanley Kubrick die Raumstation in 2001, A Space Odyssey später diesem Modell nachempfinden sollte - von Brauns Konstruktion war keine Science Fiction, sondern Teil eines offiziellen Forschungsprojektes.

Für Wernher von Braun stellte die Emigration in die USA die nahtlose Fortsetzung einer steilen Wissenschaftskarriere dar. Von seinen Versuchen mit der V2 in Nordhausen und Peenemünde avancierte er zur Führungskraft in Huntsville, Alabama. Dort war er bis 1956 an der Entwicklung der Redstone-Rocket, einem Vorläufer der Jupiter-C-Rakete beteiligt und hatte als Direktor des Marshall Space Flight Centers der NASA zwischen 1960 und 1970 maßgeblichen Anteil an der ersten Mondlandung.

Angeregt durch von Brauns Collier´s-Artikel,in dem er für bemannte Raumflüge warb, produzierte Walt Disney mehrere Fernsehshows mit dem Wissenschaftler, erstmals ausgestrahlt im März 1955: die erste Folge trug den Titel Man in Space, die letzte Mars and Beyond. Disney und von Braun standen in diesen sogenannten Science Factual Shows persönlich vor der Kamera. Nach der Ausstrahlung der ersten Show bestellte Präsident Eisenhower eine Kopie für eine Vorführung im Pentagon. Der propagandistische Effekt Disneys wurde offenbar als so gewichtig eingeschätzt, dass von Braun den Disney-Produzenten Ward Kimball 1957 nach Eisenhowers Bewilligung eines Satelliten-Programmes bat, den Einfluß der Disney-Studios nicht noch herauszustellen, da sonst das seriöse Image des ganzen Programms auf dem Spiel stehe.

Neben von Braun traten in den fünfziger Jahren noch zwei andere Raumfahrtexperten, die zuvor für Collier´s geschrieben hatten, in Disneys Dienste. Die weniger prominenten Willy Ley und Heinz Haber waren mit von Braun an der Konzeption des Themenbereichs Tommorowland in Disneyland, Anaheim, beteiligt. Zusammen mit Ley, einem Raketenforscher und alten Freund aus Peenemünder Tagen, hatte von Braun die dort aufgestellte Mondrakete entworfen.

Haber, der seine ersten wissenschaftlichen Meriten ebenfalls vor 1945 erworben hatte, forschte in den USA auf dem Gebiet der Astronautik weiter und avancierte neben Hubertus Strughold, der zuvor Unterdruckexperimente mit Insassen des KZ Dachau verantwortete, zu einem führenden Forscher des Department of Space Medicin. Für Disney moderierte er die Fernsehserie Our Friend the Atom", die im Rahmen einer von Eisenhower initiierten Kampagne zur Imageverbesserung der Atomenergie entstand. Außerdem verfasste er das gleichnamige Buch zur Serie, das allerdings unter dem Namen Walt Disney erschien.

Wer bösartigerweise auch angesichts von Tommorowland das Gestern nicht völlig vergessen will, wird nicht umhin können, die irritierende Linie vom nazideutschen Vernichtungsprogramm zu den Zukunftsprojektionen Disneys, also von Peenemünde nach Anaheim, zu bemerken. Geschichtsbewusstsein ist nicht unbedingt die Stärke einer technologieoptimistischen Unterhaltungskultur. Das gilt übrigens auch hierzulande. 1970 strahlte das ZDF eine zehnteilige Serie über UFOs aus. Autor: Heinz Haber, inzwischen eine Instanz auf dem Gebiet der Populärastronomie. Zumindest der Untertitel des parallel erschienen Buches ist ein echtes Disney-Motto: Brüder im All - Die Möglichkeiten des Lebens auf fremden Welten.

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