In der amerikanischen Komödie Die nackte Kanone gibt es eine Szene, in der Leslie Nielsen und Priscilla Presley aus dem Kino kommen und sich dabei vor Lachen kaum halten können. Lustig wird es für den Zuschauer in dem Moment, als die Kamera auf die Anzeigetafel des Kinos schwenkt und man erfährt, in welchem Film die beiden gerade waren: Platoon von Oliver Stone. Zugleich handelt es sich hier um die beinahe utopische Vorführung einer funktionierenden Beziehung. Ein Paar, das ein derart verrücktes und offenbar müheloses Einverständnis erzielen kann, muss ein glückliches Paar sein.
Im Leben sieht es hingegen anders aus. Ich kann mich zumindest gut an den Abend erinnern, an dem ich Idioten von Lars von Trier im Kino gesehen habe. Der Film dauerte zwe
ehen habe. Der Film dauerte zwei Stunden, die mir wie vier vorkamen, und ich war froh, als es vorbei war. Als ich dann mit meiner Begleiterin im Auto saß und gerade überlegte, wie nun weiter mit dem Abend zu verfahren sei, brach diese plötzlich in Tränen aus. Vielleicht war es symptomatisch für die Missverständnisse zwischen uns, dass ich sofort bereit war, ihre Stimmungslage aus einem vermeintlichen Fehlverhalten meinerseits zu erklären. Nach und nach stellte sich dann heraus, dass nicht ich, sondern der Film, den ich schon hinter mir gelassen zu haben glaubte, die ansonsten durchaus heitere Dame so übel zugerichtet hatte. Zwar hatte ich an ihr bereits beim Verlassen des Kinos ein leichtes Humpeln festgestellt - auf derartige Effekte eines Filmes war ich dennoch nicht vorbereitet. Leider verhielt es sich hier anders als bei Nielsen und Presley. Soweit ich mich erinnern kann, war der Abend damit so ziemlich im Eimer.Vielleicht hatten unsere unterschiedlichen Reaktionen auf den Film mit der unterschiedlichen Wahrnehmung einer mit Psychodramen vertrauten Psychologiestudentin und der eines gewöhnlichen Filmkonsumenten zu tun. Dass ich eher genervt als erschüttert war, zeugte offenbar von meiner Unfähigkeit oder meinem Unwillen, mich einem Film auszuliefern wie einem Psychodrama. Wie von Trier selbst sagt, stellt "Idioten" eine therapeutische Situation her. Natürlich liefert ein verkorkster Abend noch keine Argumente gegen die Filme von Lars von Trier. Im Gegenteil. Er führte mir vor Augen, dass von Trier seine filmischen Ambitionen durchaus in die gewünschten Wirkungen überführen kann. "Ein Film", sagt er, "sollte wie ein Stein im Schuh sein. Es wäre schließlich langweilig, wenn man etwas machen würde, was einen nicht berührt."Idioten war nach Das Fest von Thomas Vinterberg der zweite Film, der sich eng an die Regeln des am 13. März 1995 vorgelegten Dogma-Manifestes hält. Vinterberg und von Trier waren die Autoren und einzigen Unterzeichner des roten Flugblättchens, das passend zum hundertsten Geburtstag des Films auf einer Konferenz im Pariser Odeon-Theater verteilt wurde. 1998 zeigten die beiden in Cannes ihre Dogma-Filme, Vinterbergs Film wurde prämiert. Mittlerweile liegen sieben Dogma-Filme vor, davon fünf dänische, ein französischer und ein amerikanischer. Geplant oder kurz vor der Fertigstellung sind weitere neun, unter anderem von koreanischen, argentinischen, schweizerischen und italienischen Regisseuren. Dogma, so könnte man sagen, scheint sich zu einer florierenden Bewegung entwickelt zu haben. Das Dogma-Manifest beinhaltet bekanntlich ein Regelwerk, das dem Regisseur genau festgelegte Beschränkungen bei der Produktion eines Filmes auferlegt. Waren die Unterzeichner des Manifests der Ansicht, dass ein Film die Auflagen erfülle, definierten sie ihn durch die Ausstellung eines Zertifikates als Dogma-Film. Anläßlich der Kritik an dem amerikanischen Julien Donkey-Boy von 1999, der die Regeln vermeintlich nur unzureichend einhielt, änderten von Trier, Vinterberg und zwei neu hinzugekommene dänische Regisseure das Verfahren. Sie richteten ein Dogma-Sekretariat (www.dogma95.dk) ein, das ein Zertifikat von nun an gegen die eidesstattliche Versicherung eines Regisseurs, sich an die Regeln gehalten zu haben, vergibt. Damit untersteht die Entscheidung darüber, ob ein Film dem Dogma genügt oder nicht, nun faktisch der Definitionsmacht des jeweiligen Regisseurs. Man könnte also - innerhalb des religiös-pathetischen Duktus von Triers und Co. gesprochen - sagen: Dogma ist tot. Eine Frage wäre dann, wie lange schon, eine andere die, ob Dogma nicht von vornherein ein filmisches oder nicht vielmehr ein Ereignis des Feuilletons gewesen ist. Mit einer erstaunlichen Beharrlichkeit wurden dort diskutiert: die religiösen Implikationen des "Keuschheitsgelübdes", die Frage nach dem Verhältnis von künstlerischer Freiheit und einer Abkehr von vertraut gewordenen technischen Standards, die vermeintliche Rebellion gegen den Individualitätsanspruch der Nouvelle Vague, vor allem aber der Stellenwert eines neuen europäischen Films im Kampf gegen den allgemein schlichtweg als böse erachteten Hollywoodfilm. Eine etwas profanere, aber gern und oft gestellte Frage, war von Anfang an die, ob Dogma95 nicht von vornherein vor allem auf einen PR- und Werbeeffekt hin lanciert worden sei. Weitere Indizien für den Tod von Dogma lassen sich finden. Für Vinterberg und von Trier waren ihre vielbeachteten Dogma-Erstlinge auch zugleich die letzten Filme ihrer Art. Von Trier hielt sich mit Dancer in the Dark gleich in mehrfacher Hinsicht nicht an die Regeln, so etwa durch den Einsatz von Musik aus dem Off und dem Vorkommnis eines Mordes, und Vinterberg plant einen Film über die Zukunft, ein klarer Verstoß gegen Regel Nr. 7, die zeitliche und geographische Verfremdungen verbietet. Weiterhin: Steven Spielberg hat gerüchteweise angekündigt, einen Dogma-Film drehen zu wollen - Hollywood schickt sich also an, den Zwerg, der ihm ans Bein gepinkelt hat, zu fressen. Ein beinahe untrügliches Anzeichen auf den Abgesang der Dogma-Idee stellt schließlich das kürzliche Erscheinen zweier Bücher dar. Sie lassen vermuten, dass Dogma nun endgültig in den Schoß des Feuilletons zurückgekehrt ist, allerdings in gebundener Form und geadelt durch überaus edle Editionen: Stig Björkmans Trier über von Trier bei Rogner Bernhard und Dogma95. Zwischen Kontrolle und Chaos, herausgegeben von Jana Hallberg und Alexander Wewerka. Ersteres besteht aus einem 250-seitigen Interview von Björkman mit von Trier und lässt sich als Erweiterung und Ergänzung zu Björkmans Dokumentarfilm über von Trier (Tranceformer, Schweden 1996) verstehen. Letzteres ist ein Konvolut, das Texte und Interviews von und mit Dogma-Regisseuren, Drehbuchautoren und Schauspielern, das komplette Drehbuch von Das Fest, von Triers Tagebücher zu den Dreharbeiten von Idioten, einige feuilletonistische Annäherungen und darüber hinaus filmgeschichtlich bedeutsame Manifeste umfasst, unter anderem solche von Wertow, Truffaut, Herzog und das Oberhausener Manifest. Das Buch vermittelt den Eindruck, als ob nun wirklich alles über Dogma gesagt sei, um in abgeschlossener Form endlich eine Grabstelle in jeder gut sortierten cineastischen Bibliothek finden zu können. Björkmans von Trier-Interview ist da um einiges lebhafter. Vor allem wird deutlich, dass Dogma nur eine Etappe in der vielschichtigen Arbeit des Regisseurs darstellt. Auch die Form des Manifestes ist für von Trier keineswegs neu oder singulär. Denn bereits zu den Premieren seiner Filme The Element of Crime, Epidemic und Europa formulierte von Trier Manifeste. Dogma erscheint damit in der Kontinuität eines künstlerischen Gestus und zugleich keimt der Verdacht, dass es vielleicht doch eher die Filme sind, die es zu sehen und diskutieren lohnt.Von Trier redet gerne von sich, sehr langatmig, sehr geschwätzig, sehr redundant und vor allem sehr sehr selbstverliebt. Vom Schrank, in der seine Mutter die Briefe an seinen leiblichen Vater aufbewahrte, den er nicht kannte. Über seine Krebsphobien, seine frühe Malerei, die Verkennung an der Filmhochschule, sein Selbstverständnis als Künstler und die Hinzufügung des "von" im Nachnamen - unerträglich. Offenbar fühlt er sich nicht zuletzt durch den Umstand, dass Björkman bereits einen Interviewband mit Woody Allen und einen mit Ingmar Bergman veröffentlicht hat, für jede Schamlosigkeit entschuldigt. Und doch erfährt man einiges über die höchst unterschiedlichen Filme. Beinahe immer, wenn es um etwas Konkretes geht, straft der Regisseur seine weltanschaulichen und ästhetischen Statements Lügen. "Die Story ist der Schuft", sagt Lars von Trier, und erzählt in Dancer in the Dark eine Geschichte, die melodramatischer und konstruierter kaum sein könnte. Amerikanische Populärkultur erscheint als der Erzfeind schlechthin, und doch engagiert er für die Tanzszenen mit Björk einen Choreographen von Michael Jackson. Während Genrefilme vermeintlich den Untergang des Abendlandes besiegeln, steht The Element of Crime klar in der Tradition des Film Noir. Von Trier fährt Kanu, aber eigentlich entspannt er sich am Besten beim Tetris-Spielen.Gut: Idioten habe ich nicht gemocht. Wenn ich in einem Schuh einen Stein vermute, ziehe ich ihn mir lieber gar nicht erst an. Dennoch warte ich gespannt auf Lars von Triers ersten Science Fiction-Film - oder vielleicht einen Western? Anbieten würde sich eigentlich eine Koproduktion mit Steven Spielberg.Stig Björkman: Trier über von Trier. Rogner Bernhard bei Zweitausendeins, Hamburg 2001, 256 S., 50,- DMDogma 95. Zwischen Kontrolle und Chaos. Hg. von Jana Hallberg und Alexander Wewerka. Alexander Verlag, Berlin 2001, 453 S., 29,80 DM
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.