Stillgelegt

Im Automobil Vom Schrecken über einen möglichen Bahnstreik

Traumberuf? Lokomotivführer. Nach ihrem künftigen Platz in der Erwachsenenwelt befragt, haben wohl viele kleine Jungen schon traditionsgemäß so geantwortet. Wenn sie dann schließlich erwachsen aber trotzdem nicht Lokführer geworden waren, blieb der Dachboden des Eigenheims, um den Fetisch am Leben zu erhalten. Eingebettet in eine Welt aus Märklin. Im Fernsehen widmen sich noch immer ganze Sendereihen den schönsten Eisenbahnstrecken und prächtigsten Dampflokomotiven und zeigen einen Typus Mann, der dadurch auf Touren kommt wie sonst durch nichts. Wenn sich nun aber unterbezahlte Lokführer strikt zu weigern drohen, diesem Traumberuf nachzugehen, fragt sich, wovon ihre Söhne noch träumen sollen. Liegt es daran, dass die Lokomotiven der aktuellen Hochgeschwindigkeitszüge von den angehängten Waggons in Farbe und Materialbeschaffenheit kaum mehr zu unterscheiden sind? Die Lokführerei scheint jedenfalls genauso entzaubert zu sein wie das Zugfahren selbst. Und nicht zuletzt, weil alle in die Ferien fliegen, hat die Bahn auch mit Urlaub nichts mehr zu tun. Wo sie Reisende nicht mehr von einem hässlichen an einen schönen Ort transportieren soll, bleibt das Abenteuer aus, und auch der kontemplative Fensterblick, der die vorbeifliegende Strecke zur rite de passage macht, ist wohl bloß eine Reminiszenz an historisch überholte Wahrnehmungen. Die Großraumwagen eines ICE ähneln stattdessen den Großraumbüros in den Städten, zwischen denen sie verkehren: überall aufgeklappte Laptops, Dienstpläne und Kostenkalkulationen in Exceltabellen. Schließlich sorgt ein flächendeckend normiertes Bahnhofsdesign dafür, dass die Beförderten höchstens durch minimale Differenzen zwischen Start- und Zielort irritiert werden. Sie verbleiben in einer Blase, innerhalb derer sie von A nach B gebeamt werden, wobei der Unterschied zwischen A und B in der Fahrtzeit bemessen wird. Fahrtzeit aber ist Arbeitszeit. Dermaßen sauber ins Erwerbsleben eingepasst wird die Bahnfahrt mehr als mobiler Bürositz denn als Bewegung erlebt, und streikende Lokführer bewirkten daher nichts als die Stilllegung der sowieso schon Stillgelegten. Man kann sich in diesem Zusammenhang auch fragen, warum in Zusammenhang mit einem möglichen Bahnstreik vor allem vom wirtschaftlichen Schaden die Rede ist, nicht aber von den Verdienstausfällen, die den Transportierten durch verhinderte Büroarbeit selbst entsteht. Eins zumindest ist klar: Bleibt der Zug im Depot, schauen sich alle, die aus beruflichen Gründen zur Mobilität verdammt sind, nach Alternativen um. Und sie schauen nicht sehr lange, denn was konkurriert auf Kurz- und Mittelstrecke schon mit dem Auto? Hier aber bleibt der Laptop in der Tasche und die Arbeitskraft auf der Strecke. Die Aufmerksamkeit des Fahrers ist an den Verlauf der Straße gefesselt. Eine Befreiung, könnte man also vermuten, auch wenn es eine erzwungene ist. Ist schließlich "Auto" und "Selbst" nicht schon dasselbe Wort und die motorisierte Karosse daher die potenzierte Übersetzung des eigenen Willens in hundert Pferdestärken? Wer aber die Autobahnen des Ruhrgebiets oder den Berliner Ring vom Steuer aus gesehen hat, weiß, dass das nur eine romantische Verklärung ist. Autonomes Autofahren erfordert freie Straßen und ist daher eine romantische Utopie, die so nur in der Werbung oder im Road Movie erlebt werden kann. Stattdessen sitzen sie da und fahren Schritttempo: all die Halter geländetauglicher Vans, die mühelos auch über Wiesen und Äcker am Rand der Straße gesteuert werden könnten. Sie sitzen da - und wenn sie schon das Lenken und Gasgeben nicht an Schienen und Lokführer delegieren konnten, lullt doch zumindest das Wissen um die Sicherheit des eigenen Gefährts wohlig ein. Airbags, Knautschzonen und Antiblockiersysteme: Technologie ummantelt das aufs Auto entkleidete Selbst in einer eigenen Blase. Death Proof, todsicher, heißt das Mantra dieser halbbewusst Dahinschunkelnden. Und so schließt sich der Kreis: Der zähflüssige Verkehr ist eine Eisenbahn auf Asphalt. Wer das nicht länger will, dem bleibt die Revolution. Und zu der läuft im Kino gerade der allerschönste Lehrfilm. Quentin Tarantino zeigt in Death Proof genau, wie es geht. Dass sich nämlich auch überfüllte Ausfallstraßen hervorragend für Verfolgungsjagden in Höchstgeschwindigkeit eignen. All die Papis am Steuer ihrer Familienkutschen und militärtauglichen SUVs - sie kommen ins Trudeln und landen brav im Straßengraben, kaum dass sie von den im frisierten Dodge vorbeirasenden Amazonen touchiert werden. Traumberuf? Stuntwoman!


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