Die Stocknüchterne in heller Aufregung

NZZ Die „Neue Zürcher Zeitung“ sucht einen Chefredakteur. Das liberale Traditionsblatt sollte sich auf seine Kerntugenden besinnen
Ausgabe 51/2014

Als nüchterne Informationsquelle mit eigener Stimme aus liberaler Warte ist die Neue Zürcher Zeitung bekannt. Als die Berliner Mauer fiel, war das am 10. November 1989 auf der bilderfreien NZZ-Titelseite in drei kurzen Absätzen unter dem hypersachlichen Titel „Öffnung aller Übergänge der innerdeutschen Grenze“ zu lesen. Tags darauf fragte ein Leitartikel vorsichtig: „Eine DDR ohne Mauer?“, worauf ein Text unter dem Titel „Deutschland im Taumel eines Wiedersehens“ folgte. Was auch immer bisher passierte – die Redakteure in Zürichs Falkenstraße blieben cool und schrieben aus ihren Einzelbüros sprachlich elegante Einschätzungen der Welt.

Noch heute ist es eine hervorragende Idee, sich in der NZZ über die Lage in der Welt zu informieren. Statt Aufregung bringt sie Fakten, statt Debatten nachzuhecheln, geht sie eigenen Themen nach, statt Hysterie liefert sie Einordnung. Seit einigen Tagen jedoch ist die Zeitung nicht wiederzuerkennen. Chefredakteur Markus Spillmann wurde überraschend gefeuert. Eine Redakteurin äußerte gegenüber dem Radio, die Nerven der Mitarbeiter lägen blank. Einige schrieben an die Chefredaktion und an den Verwaltungsrat, andere drohten schon mal vorsorglich mit ihrer Kündigung. Und auf Twitter und Facebook werden unablässig die aktuellsten Gerüchte über neue Chefs und Besitzer geteilt. Eines von ihnen hat am Montagmorgen ein wenig an Bedeutung verloren: Markus Somm, Chefredakteur und Mitbesitzer der Basler Zeitung, bestätigte in einer Medienmitteilung zwar Gespräche mit der Führung der NZZ-Mediengruppe bezüglich der Neubesetzung der Chefredaktion, tatsächlich aber habe er sich „nach reiflicher Überlegung“ entschlossen, seine aktuelle Tätigkeit „unverändert weiterzuführen“. Der zweite Mitbesitzer der Basler Zeitung, SVP-Politiker Christoph Blocher, hatte einen Einstieg bei der NZZ bereits letzten Freitag dementiert.

Im Grunde geht die Diskussion um die politische Ausrichtung der NZZ und dabei vor allem um die Haltung zur EU: Ob man sich dort mehr einbinden oder mehr abgrenzen soll, lautet die mit Zuwanderungsaspekten verknüpfte Schweizer Gretchenfrage seit Jahrzehnten. Während in Deutschland keine wirtschaftsliberale Partei mehr im Parlament vertreten ist, buhlen in der Schweiz gleich zwei der großen Parteien um die Gunst wirtschaftsliberaler Wähler, nämlich die FDP, aber auch die SVP. Die NZZ ist bisher FDP-nah. Die deutlich konservativere Politik der SVP teilen zwar viele Wähler, jedoch nur wenige Medien, weshalb Blocher gern mehr Zeitungen hätte, die seine Positionen teilen. Bei der Basler Zeitung ist ihm mit seinem Einstieg eine solche inhaltliche Wende gelungen, wenn auch zu einem hohen Preis und verbunden mit einem spürbaren Auflagenverlust.

Die Aufregung ist derzeit groß, aber unnötig, denn FDP-Mitglied Somm wäre wohl ein ganz guter NZZ-Chefredakteur. Er hat eine glasklare Schreibe, ist historisch bewandert und debattierfreudig, er könnte die zur Apathie neigende NZZ-Redaktion mit seiner Begeisterungsfähigkeit anstecken und aufwecken. Sein großes Manko für die Position ist einerseits die große Nähe zu Blocher, andererseits der Unwillen, sich mit digitalen Fragen zu beschäftigen. Denn der künftige NZZ-Chefredakteur sollte auch das Thema Internet mühelos beherrschen. Er (oder sie!) muss die augenscheinlich hochemotional besetzte Marke stocknüchtern in die Zukunft führen. Viel Glück.

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