Wir Ungleichzeitigen

Alltagsverstand Bad news first: Wir sind alle Konformisten. Und jetzt die gute Nachricht: Es muss nicht so bleiben.

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„Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ Die ersten Sätze von Ernst Blochs „Tübinger Einleitung in die Philosophie“ aus dem Jahr 1963. „Wir sind. Aber wir haben uns nicht. Darum werden wir erst.“ Auch so dürfe diese Eröffnung gelesen werden, sagt Prof. Dr. Martin Seel, Professor für Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt/Main. Beiden Varianten ist eines gemeinsam: Für das vor allem in letzter Zeit politisch-medial wieder verstärkt beschworene Wir-Gefühl taugen sie beide nicht.

Ein aktuelles, auf den ersten Blick unscheinbares Textbeispiel, das hier stellvertretend für zahllose steht (ebenso wie das Medium, dem es entstammt): „Wut auf die Deutschen. Keiner mag uns – warum nur?“, fragt Thomas Fricke in seiner Kolumne auf SPIEGEL online vom 1. Juni 2018. Und weiter: „Alle schimpfen auf Deutschland. Überzogen? Mag sein. Aber helfen wird uns das nicht mehr. Denn wir haben mehr Schuld daran, als viele sich eingestehen.“

Es folgt ein Kommentar über „Deutschlands Leistungsbilanzüberschuss“, „deutsche Geld- und Lehrmeister“, deutsche Austeritätspolitik, deren Folgen in Europa und „unseren“ Ruf dortselbst, etc. etc. Und die Fricke’sche Selbstbezichtigung in „unser“ aller Namen: „Wir können … auch gut betrügen, wie eine größere Wolfsburger Firma seit Kurzem zu belegen sich bemüht.“

Bedenkenswerter als der Text selbst sind die Reaktionen der SPIEGEL online-Leser: Sie versammeln sich – ohne Zwang – hinter dem vom Autor postulierten „Wir“, und arbeiten sich – wie erwünscht – mehr oder weniger emotional an den Textinhalten ab. Würde man den einzelnen befragen, ob er sich wirklich persönlich für die Manipulationen eines deutschen Automobilherstellers verantwortlich fühlt, die Antwort wäre höchstwahrscheinlich „nein“.

Warum dann dieser spontane Schulterschluss? Mögliche Antwort: Der Text transportiert eine Botschaft, die hierzulande bereits Teil des alltäglichen Selbst- und Weltverständnisses geworden ist, der man sich deshalb als „wir“ – scheinbar unbesehen – anschließen kann. Er präsentiert, universalisiert und organisiert einen gesellschaftlichen Konsens, in dem er diesen bereits als gegeben voraussetzt.

Wer sich als Lesender/Kommentierender damit gemein macht, mutiert unter der Hand zum Agenten des vom Autor postulierten „fatalen Mix aus Tante-Schäuble-Ökonomie und deplatzierter Lehrmeisterei“, hat mit Schuld an den „Schäden, die das angerichtet hat“, wird zum Profiteur, dessen „Wohlstand… daran hängt, dem Rest der Welt all unseren Kram zu verkaufen“.

Dieses „Wir“ hat also einen Widerhaken. Wer den Köder hastig schluckt, macht sich aktiv-passiv zum Mitverantwortlichen und angeblichen Nutznießer einer neoliberalen Finanz- und Wirtschaftspolitik, liefert sich ihren Interessen und ihren Folgen aus. Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen. Denn: auch wer „nur“ Schmiere steht, macht sich strafbar.

Mich und meinen Alltagsverstand bewahrt vor „vergesellschafteten“ Interessenskonflikten dieser Art unter anderem die Erinnerung an einen deutschen Spielfilm aus den 70ern mit dem sprechenden Titel: „Lina Braake. Oder: Die Interessen der Bank können nicht die Interessen sein, die Lina Braake hat.“ Er handelt, kurz gefasst, von einer 81 Jahre alten Rentnerin, die von der Bank aus ihrer Mietwohnung vertrieben wird, im Altersheim landet, sich dort mit einem 84-jährigen wegen diverser Bankbetrügereien entmündigten Ex-Bankkaufmann zusammentut, und sich mit ihm durch einen Kreditbetrug (sic!) an der Bank rächt. Wie die Geschichte endet? Wer den Film kennt, weiß, sie geht für Lina Braake gut aus.

Nun ist das Leben kein Film und die poetische Gerechtigkeit ein mindestens ebenso unzuverlässiger Bundesgenosse wie der menschliche Alltagsverstand. Mit ihm haben „wir“ - laut dem 1937 nach langer faschistischer Kerkerhaft verstorbenen italienischen Marxisten Antonio Gramsci - meist „auf eine zusammenhangslose und zufällige Weise…an einer Weltauffassung“ teil, „die mechanisch von der äußeren Umgebung auferlegt ist“. (Gefängnishefte, Heft 11, § 12). Ein Schicksal, dem zunächst kein Mensch entkommen kann. Denn: „Man ist Konformist irgendeines Konformismus, man ist immer Masse-Mensch“, behauptet Gramsci.

Es kommt – für überzeugte Individualisten – noch schlimmer: „Wenn die Weltauffassung nicht kritisch und kohärent, sondern zufällig und zusammenhangslos ist, gehört man gleichzeitig zu einer Vielzahl von Masse-Menschen“ – mit „Elementen des Höhlenmenschen und Prinzipien der modernsten und fortgeschrittensten Wissenschaft, Vorurteilen aller vergangenen und lokal bornierten geschichtlichen Phasen und Intuitionen einer zukünftigen Philosophie“.

Den Betroffenen bleibt – laut Gramsci – nur ein mit geistiger Anstrengung zu findender Ausweg: die Kritik des Alltagsverstands: „‘Erkenne dich selbst‘ als Produkt des bislang abgelaufenen Geschichtsprozesses, der in einem selbst eine Unendlichkeit von Spuren hinterlassen hat, übernommen (wie eine Erbschaft, Anm. des Verf.) ohne Inventarvorbehalt. Ein solches Inventar gilt es zu Anfang zu erstellen.“

Wer sich der dazu nötigen Aufräumarbeit bewusst wird, sollte in einem ersten Schritt darauf achten, seinem Inventar - unbesehen und ohne äußeren Zwang - keinen weiteren gedanklichen Sperrmüll hinzuzufügen. Zum Beispiel, indem er sich klar macht, welches „Wir“ er wirklich zu seiner Sache machen will.

„Unser Wahlspruch muß also sein: Reform des Bewußtseins … durch Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewußtseins, trete es nun religiös oder politisch auf“, schrieb der „frühe“ Karl Marx an Arnold Ruge im September 1843. „Es wird sich dann zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen.“

„Wir sind. Aber wir haben uns nicht. Darum werden wir erst.“ Wer auch dieses „Wir“ – und damit alle „Wirs“ dieses Textes – kritisch hinterfragt, macht sich zumindest auf den Weg. Und er kann hoffen. Denn in jeder Fuhre Sperrmüll sind immer auch Schätze verborgen, die es zu sichten, für die Zukunft zu bewahren und - auch für andere - nutzbar zu machen gilt.

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