Das Blaue vom EU-Himmel

Sperrholz-Panorama Eine Ausstellung über "Das Bild Europas" im Münchner Haus der Kunst

Zuerst die Fragen, dann die Bilder. Oder andersherum? Erst die Bilder, dann die Fragen? Was fällt einem Europäer zuerst ein zu "Europa"? Statistik? Nato? Euro? Welche Assoziationen verbinden er oder sie damit? Fünfundzwanzig Staaten, ein Parlament, eine EU-Kommission, Demokratie, Stabilität, Wirtschaftskraft? Fünfzig Jahre Europäische Union? Oder drei Tausend Jahre Geschichte, Kultur, Zivilisation, Kriege, Eroberung, Zerstörung und Vernichtung? Was anderes als Vorurteile und Klischees? Blond bezopfte Holländer? Sommersprossige Iren? Langweilige Deutsche? Feurige Spanier? Christliches Abendland?

Wer´s glaubt, wird vielleicht selig, aber bestimmt nicht heimisch im vielbeschworenen "Haus Europa". Die jüngste Wahl zum Europäischen Parlament drückte mit nur 45,5 Prozent Wahlbeteiligung deutlich aus, dass die Einwohner Europas sich nicht unbedingt als "Europäer" identifizieren. Wer aber und wie kann man das erreichen?

Der vormalige EU-Präsident Romano Prodi und der belgische Premierminister Guy Verhofstadt hatten 2001 europäische Intellektuelle eingeladen, angesichts der bevorstehenden Ost-Erweiterung der EU über Brüssel als neue europäische Hauptstadt und über ihre stärkere Wahrnehmung nachzudenken. Mag sein, dass hier Kunst als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln gilt. Scheint sie doch geeignet, um über sinnliche Eindrücke "Das Bild Europas" zu schaffen und damit unterschwellig ein europäisches Bewusstsein auszulösen. Geht es also, wie es der niederländische Architekturkunstpolitiker Rem Koolhaas ausdrückte, "um eine neue, überzeugende Bildsprache, die das Defizit an überzeugenden Handlungen" mit überwinden soll?

Der international bekannte und mit dem Pritzker-Preis für Architektur ausgezeichnete Holländer kündigte ein Projekt an, das Europa "nicht als Addition, sondern kreativ als Geschichtserlebnis" begreifen lassen will. Es sollte prall mit einer Daten- und Bilderflut gefüllt sein, die sein interdisziplinärer New Yorker Thinktank AMO, der, anders als das klassisch orientierte Rotterdamer Stammhaus OMA (Office for Metropolitan Architecture), architektonisches Denken und Webdesign verbinden will, und das Foreign Policy Centre in London mit Fleiß und Akribie zusammengetragen haben. Aufgestellt haben sie das alles nun im Münchner Haus der Kunst.

Wenn die EU-Kommission einen Auftrag erteilt, sollte man sich - Freiheit und Nichteinmischung hin oder her - auch nicht wundern, dass daraus entstanden ist, was Rem Koolhaas ganz unverhohlen "Propaganda für Europa" nennt: optimistisch, zuweilen ironisch gebrochen, self fulfilling prophecy als Utopie.

Bislang gibt es zwei Versionen dieser Ausstellung, die eine in Brüssel ist gerade zu Ende gegangen, die Münchner geht noch bis Anfang des neuen Jahres. Ausgerechnet im Propaganda-Bau der Nazis? Genau hier gehöre sie hin, erklärt ihr Direktor Chris Dercon. Erstens verkehre man damit den Zweck des Baus und stelle die Frage nach der Bedeutung von Propaganda im 21.Jahrhundert, und zweitens ist sie Teil der Themenrings "Utopia Station", der die momentane Saison definiert.

Der Gang durch die Ausstellung ist ein Abschreiten der Geschichte vor allem Westeuropas, der Aufzählung ihrer Politik und Wirtschaftsdaten. Von der Kohle- und Stahl-Gemeinschaft bis zur aktuell fünf hundert Millionen Menschen zählenden Marktmacht. Jean Monnet als Betreiber der Montanunion lässt durch eine fünf Meter hohe, goldverkleidete Styroporstatue grüßen. Stilistisch eher an den Ausdrucksformen der alten und uralten Vergangenheit orientiert, beschränkt sich "Das Bild Europas" auf bekanntes Anschauungsmaterial in Collagenform.

Im ersten Raum als überdimensionale Wandbilder der Historie auf der einen und der politischen, fünfzigjährigen Geschichte auf der anderen Seite. Das ist bunt, opulent und beeindruckend. Vom abstrakten "Big Bang" über Zeitalter- und Ereignis-Inseln mit Dinosauriern, Neandertaler, der Antike bis zu detaillierteren Ereignissen in der Neuzeit. Christentum, Entdecker und Forscher, Aufklärung, Kolonialismus, Nationalismus, Marx, Lenin, Stalin, Hitler, Judenstern und Jubelmassen. Auf der anderen Wandseite die Geschichte der Europäischen Union mit ihren Vorhaben, Wendepunkten, Helden und Schurken. Diese Wandtafel will so etwas wie ein Epos des Parolen-Zeitalters sein. Da gibt es keine symbolischen "Inseln" zu sehen, sondern nur noch Konglomerate von Fernsehgeräten mit Nachrichtenbildern, sowohl "Peace"-Fahnen wie Resultate von Bomben-Attentaten, Frauenhandel wie nackte Schwule, abgewiesene Flüchtlinge wie Nationalisten undundund. Keine europäische Vision, sondern ein Müllhaufen der bedeutungslosen Eventproduktion, der zur Entsorgung ansteht. Offen bleibt, wer dafür zuständig ist. EU-Präsident auf dem Tableau ist immer noch Romano Prodi, der mit großer Geste in die Zukunft weist, die sowohl ins EU-Blaue als auch auf die Türkei-Mitgliedschaft zielt.

Riesige Bildercollagen, diesmal akkurat wie über Großmutters Gründerzeitsofa in goldene Schnörkelrahmen gefasst, hängen auch im zweiten Ausstellungsraum an den Wänden. Gängiges und Typisches der fünfundzwanzig Mitgliedstaaten aus Pop und Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, Kultur und Klatsch. Zu Schweden gehören Ikea, H und Volvo, zu Deutschland zum Beispiel "Derrick", Steffi Graf, Claudia Schiffer, GreenCard und Trabbi. Mit dem jeweiligen Länder-Almanach wird auch hier wieder komplex, aber nicht unbedingt komplett informiert. "Europe, think forward", heißt der Schriftzug des Films über die Brüsseler Bürokratie, der in einen großen, durchsichtigen Ballon projiziert wird. Darunter steht ein Raum füllender "runder Tisch", auf dem chronologisch die Gruppenfotos der EU-Kommissionen zu sehen sind - Kopfgeburten.

Blickfang im dritten Raum ist in der Mitte der wie ein Altar aufgebaute "Aquis Communautaire", ein 80.000 Seiten umfassendes Nachschlagewerk, in dem zum ersten Mal eigens für die Ausstellung alle Regeln und Verordnungen zusammen gefasst wurden, die die Europäische Gemeinschaft sich bislang gegeben hat. Beim Durchwälzen dieses viereinhalb Meter langen Registers mit seinen eng bedruckten Seiten kann man die Mutation Europas zur Brüsseler Eurokratur durchaus nachvollziehen.

"Das Bild Europas" strotzt vor Symbolik, aber erst am Ende entwickelt man auf diesem Parcours d´Europe Gefühle. Wenn man sich in den ausgeschnittenen Litfasssäulen-Abschnitt stellt, wo man wie in einer Endlos-Schleife die beiden minimierten Wandhistorienbilder auf Augenhöhe im Rund um sich hat, animiert dieses Sperrholz-Panorama nicht nur zum Nachdenken. Je länger man dort verweilt, desto mehr fühlt man sich dort heimisch, ist gleichsam im "Haus Europa" angekommen, mit seiner Geschichte, seiner politischen Entwicklung, seinen Licht- und Schattenseiten. Sollte sich Identifikation am Ende doch herstellen lassen?

Das Bild Europas. Haus der Kunst, München, noch bis zum 9. Januar 2005


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