Normal ist hier gar nichts. Das neue Jüdische Zentrum in München sprengt den Rahmen, unübersehbar. Dreiunddreißig Meter lang, zweiundzwanzig Meter breit, zwanzig Meter hoch ist allein die Synagoge "Ohel Jakob" (Zelt Jakobs). Ein Koloss mitten in der Innenstadt, beinahe auf einer Linie mit den Türmen der Frauenkirche, dem Wahrzeichen der Stadt. Allein der Sockel aus den ockerfarbigen Travertin-Krustenplatten, der an die Klagemauer erinnert, misst acht Meter Höhe. Die aufgesetzte, wenn auch durch einen filigranen Messingüberzug lichtdurchlässige Stahlkonstruktion des "Zeltdachs" noch einmal zwölf Meter. Mit zwei weiteren Großbauten in moderner, geschliffener travertingrauer Glattfassadenarchitektur wird die kleinteilige Altbebauung um den mittelalterlichen St. Jakobsplatz buchstäblich an den Rand gedrängt. Alles verschwindet hinter dem "großen Wurf" des Planerteams Wandel Hoefer Lorch aus Saarbrücken, das bereits in Halle die Synagoge bauen durfte.
Mit dem Gemeindezentrum, in dem vom Kindergarten bis zu Schule und Veranstaltungsräumen, Kulturzentrum, Büroräumen und einem koscheren Restaurant auf vier Stockwerken alles untergebracht werden soll, was jüdisches Leben ausmacht, und dem noch nicht fertigen, ebenfalls in einem "Würfel"-Bau untergebrachten jüdischen Museum, verändert sich nicht nur das Stadtbild, sondern, wie Oberbürgermeister Christian Ude bei der Einweihung erklärt, "unsere Stadt". Was durchaus Rückschlüsse auf die politische und gesellschaftliche Ignoranz aller amtierenden Oberbürgermeister und Stadträte bis zum Amtsantritt Udes 1998 zulässt. Denn die Gelegenheit, jüdische Mitbürger und damit auch wieder jüdisches Leben in das städtische zu integrieren, hätte es schon seit Kriegsende gegeben, als zu den wenigen Überlebenden jüdische Migranten aus Osteuropa, Israel und den USA kamen. Inzwischen leben in München wieder knapp 10.000 Juden - fast wieder der Stand von 1933. Normal ist eben gar nichts.
"Willkommen im Herzen Münchens!" heißt es auf überdimensionalen Plakaten, die von Geschäftsleuten der Münchner City aufgehängt wurden. Und daneben, auf blaugrundigen Tafeln, gesponsert von der Münchner Prominenz: "Wir freuen uns für München mit seiner Jüdischen Gemeinde auf das Jüdische Zentrum Jakobsplatz." Wer hätte auch je damit gerechnet, dass in der Nazi-"Hauptstadt der Bewegung", in der Propaganda-Minister Josef Goebbels mit seiner Rede am 9. November 1938 die Pogrome entfachte, die Synagogen in Brand gesetzt und Juden deportiert und ermordet wurden, 68 Jahre später der größte Synagogenneubau Europas feierlich eröffnet wurde? "Damit zeigen wir heute aller Welt, dass es Hitler nicht gelungen ist, uns zu vernichten", hebt die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, hervor. Sie hatte als Sechsjährige die Brandschatzung und das Wüten der Nazis mit ansehen müssen und wie durch ein Wunder überlebt. Wieder in ihrer Heimatstadt jüdischem Leben Heimstatt und Zukunft zu geben, war fortan ihr "Traum", und das Jüdische Zentrum ist das Ergebnis ihrer Anstrengungen. Denn, so die energische 74Jährige, "wer baut, der bleibt".
Zu groß, zu teuer, zu ehrgeizig, warfen ihr sogar Mitglieder der eigenen Gemeinde vor, die jetzt allesamt überwältigt sind von der schlichten Schönheit des Sakralbaus, die einen mit den aufstrebenden Wandverkleidungen und Sitzreihen aus duftendem Zedernholz und der Fülle des hereinströmenden Lichts aus dem Himmelwärts gerichteten Glaswürfel umgibt. 57 Millionen Euro haben Synagoge und Gemeindezentrum gekostet. Aufgebracht wurde das Geld hauptsächlich von der Stadt, und zwar mit dem Erlös aus dem Verkauf des alten Synagogengrundstücks an den Karstadt-Warenhauskonzern. Den Rest teilen sich der Freistaat Bayern und private Sponsoren. Entscheidender Promoter des Projekts war der jetzige Oberbürgermeister Uhde, der es mit durchschlagendem Erfolg zur Chefsache erklärte.
Wenn er nun sagt, dass "mit dem heutigen Tag das abgeschiedene Hinterhof-Dasein des Münchner Judentums ein Ende hat", ist das aber nur die halbe Wahrheit. Denn die liberale Gemeinde Beth Shalom darf nicht in der neuen Synagoge Schabbat feiern, sondern trägt weiter in ihren abgelegenen Souterrainräumen das Kleid der Schmuddelkinder. Das Jüdische Zentrum gehört nämlich der Israelitischen Kultusgemeinde, und in der bestimmt ein orthodoxer Rabbiner, wer eingelassen wird. Stephen Langnas herrscht nicht nur über den streng männlich ausgerichteten Ritus, sondern auch über die Sitzordnung. Die Männer in der Mitte, die Frauen hinter einem dezentem Messinggittersichtschutz an den Seiten, "damit keine leichtfertige Atmosphäre entsteht". Was im übrigen auch für die Gäste am Tag der Eröffnung galt. Die bundesdeutsche Politprominenz mit Bundespräsident Horst Köhler, Ministerpräsident Edmund Stoiber mit dem bayerischen Kabinett, Vertreter aus den Kirchen und Kultur und Sponsoren aus der Geschäftswelt wie der Millionenspender Hubert Burda samt Gattinnen defilierten auf dem roten Teppich vor der dankbaren Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde, die seit Juni dieses Jahres auch Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland ist. Geradezu demonstrativ, als wollten sie gegenhalten gegen die jüngsten Umfrageergebnisse, bei denen die Bayern mit 16,4 Prozent offenem Antisemitismus, 42,4 Prozent Ausländerfeindlichkeit und 8,1 Prozent verharmlosenden Nationalsozialismus die bundesdeutsche Spitze bei antisemitischen Einstellungen bilden.
1.500 Polizisten im Einsatz, Scharfschützen auf den Dächern, überall Kameras, Spürhunde, großräumige Absperrungen. So sah die Wirklichkeit am 9. November 2006 aus. Ein geplanter Anschlag bei der Grundsteinlegung vor drei Jahren konnte noch rechtzeitig verhindert werden, eine Demonstration der Neonazis am Tag der Einweihung wurde verboten. Das Schutzbedürfnis bleibt, auch wenn die Sicherheitsmaßnahmen, in deren Technik allein fünf Millionen Euro flossen, in Zukunft weniger martialisch ausfallen. Die Synagoge, deren transparentes Bronzegewebe um den Glasaufbau in der Dunkelheit wie ein geschliffener Edelstein auf dem mächtigen Sockel leuchtet, ist nicht nur eine optische Herausforderung für den Anspruch, endlich auch den jüdischen Mitbürgern einen angemessenen Platz in der deutschen Gesellschaft zu sichern.
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