Ein Drittel Liter Mäusemilch

Medientagebuch Baff vor Blöff: Ein neuer Versuch der ARD, die "große Samstagabend-Unterhaltung" wieder zu beleben

Lieber Jürgen, ich sag´s mal so, weil doch alle dich im Studio duzen, die Sabine, die Petra, der Holger, und natürlich die Tanja, deine Assistentin, die ihr nach einem "ausführlichen Casting" ausgewählt habt. Die Investition hat sich gelohnt, aber hallo, für jeden Auftritt anders gestylt, mal als Kellnerin, mal als Goldmarie, immer leicht geschürzt und schnuckelig und trotz der blonden Langhaare kein Luder, sondern auch immer irgendwie unschuldig. Nur in der Kostümierung der Verkehrshostess haute das nicht so ganz hin, da fand sie selber ihren Rock viel zu eng und ihre Kappe nicht ganz echt, aber wir sind da ja nicht so, lief sie doch das erste Mal, diese "Spielshow" auf dem überhaupt besten Mega-Sendeplatz im Ersten, Samstag Abend um 20.15 Uhr! Also da, wo die "große Unterhaltung" gemacht wird, Hans-Joachim Kulenkampff, Hans Rosenthal, Dietmar Schönherr, Frank Elstner, viele Musikantenstadl-Volksmusik-Bühnen-Touren und nicht zuletzt Carmen Nebel, eine illustre Schar.

Und jetzt die "Familienshow" mit Lippe blöfft. Das aber haut einen doch aus dem Plüschsessel, weil man als gemeiner Zuschauer so blöd auch wieder nicht ist, als dass man nicht in der nagelneuen Rechtschreibung nachschaut, um unter "irreführen, täuschen", (schleswig-holstein. "durch Worte und Gesten in Schrecken versetzen") immer noch wie gewohnt "bluffen" zu finden und weit und breit kein "blöffen". Der Fantasie sind wohl keine Grenzen gesetzt im WDR, der als verantwortlicher Sender mit seinem Unterhaltungschef Axel Beyer eigentlich wissen sollte, was geht und was nicht, um sich nicht mit solch einem dämlichen Titel von vornherein die Sympathien zu verscherzen.

Kurz, man muss schon eine erste Hemmschwelle überwinden, um sich ins Programm von Jürgen von der Lippe zu schalten, der übrigens in echt Hans-Jürgen Dohrenkamp heißt und eine für sein Genre kongeniale Zusammensetzung aus ostwestfälischem Beharrungsvermögen (geboren in Bad Salzuflen) sowie rheinischer Leutseligkeit (aufgewachsen in Aachen) aufweist. Damit lässt sich gut bluffen, zum Beispiel: "Ich behaupte, André Rieu kann gar nicht Trompete spielen!" oder: "Wir feiern heute meinen vierzigsten Geburtstag - zum achten Mal!"

Aber das war ja nur Anfangsgeplänkel, zur Einstimmung der Gäste und der drei Kandidaten Sabine, Petra und Holger, für die das Studio offensichtlich ungewohnt war und die der Showmaster mit sicherem Gespür immer wieder in die Spur bringen musste. Sie hatten nach jeder Behauptung abzustimmen, ob "Blöff" oder nicht, dass der gute Kaffee aus Indonesien "Katzenköttelkaffee" sei, oder Herr Zhonga aus China ein Comedy-Künstler, oder die Abiturientin Anke auf Kaktus "Florian" Beethovens Ode an die Freude spielen könne. Das war mehr als spinnig, das wurde richtig interessant, so eine Art familiengerechter Populärwissenschaftsquiz, mit kleinen Einspielfilmen aufgelockert und mit Varieté- und Akrobatikeinlagen garniert.

Na gut, dass das quirlige HB-Männchen aus der Uralt-Zigarettenwerbung eine Waschmaschinen-Anleitung auf arabisch rückwärts abspult, ist nicht unbedingt wissenschaftlich relevant, aber immer noch lustig und so harmlos wie Herr Zhonga aus China, der des Deutschen nicht mächtig ist und natürlich keine Comedy macht, sondern stumm rohe Eier auf seiner chinesisch platten Nase jongliert. Die Stacheln von Kaktus "Florian" eignen sich hingegen tatsächlich als Zupfinstrument, und der angebliche Elch im Hochsauerland entpuppt sich unter der Verkleidung als Comedy-Witznachwuchs Ingo Oschmann, der nebenbei eine Varieté-Nummer abzieht.

Klingt banal, und war es auch. Aber gerade das hatte was, weil der Jürgen doch mehr als nur blödeln kann wie in Geld oder Liebe?; Wat is?; Heiland auf dem Eiland. Mensch, Jürgen! (Apropos, wäre das nicht auch ein schöner Sendetitel?!) Was habt ihr euch beim WDR nur gedacht, so absolut gegen den Mainstream des Fernseh-Business zu senden? So gemächlich in Wort und Bild und Ablauf? So überlegt? So rundum nett? So überlegen gelassen wie der Jürgen auftrat, der doch gemeinhin für seine schlüpfrigen Redensarten berüchtigt ist und hier nur zweimal kurz abrutschte, aber sonst auch noch durch seine mentale Geistesgegenwart beeindruckte. Er machte niemanden runter, jingelte niemanden hoch, quatschte auch keinen zu, sondern war die ganze Zeit er selbst, ein Gastgeber ("jetzt trinken wir mal gemütlich ein Tässchen Kaffee") und Gesprächspartner, der sich, ohne sich anzubiedern, unter gegebenen Umständen selbst unter den Hammer legt. Das hatte Charme. Wie die Preise, insgesamt 10.000 Euro, die, so könnte man glauben, aus volkspädagogischen Gründen auch gegen den Strich ausfallen, indem sie auf drei nebulöse Rechnungen ausgestellt wurden. Die Punkte-Siegerin durfte als Gewinnerin zuerst wählen zwischen ein Drittel Liter Mäusemilch, dem Jahresbedarf an Teebeuteln für das Wuppertaler Affenhaus oder dreizehn Meter Radweg, und dass sie sich für die Teebeutelration entschied, war tierlieb, bedeutete aber in Euro umgerechnet den niedrigsten Gewinn. Die ARD als moralische Anstalt, wer hätte das gedacht!

Vielleicht gehört es dann auch gar nicht zum Einsparprogramm von Maske und Kostümberatung, sondern ist Lippe´sches Markenzeichen, wenn er immer noch die Strubbelhaare mit angedeuteter Elvis-Tolle, Kinnbart und einen dicken Bauch vor sich herträgt und immer noch dieses, diesmal farblich etwas abgemilderte, Hawaii-Hemd über dem T-Shirt trägt? A la: seht, ich bin einer von euch?

Irgendwie waren sogar die Kandidaten angenehmer Bluff, wenn man denn seine gesammelten Vorurteile aus Kandidaten-Shows parat hatte. Der Heavy-Metal-Band-Spieler Holger war Finanzbeamter, die italienisch kochende Petra im wahren Leben Kriminalhauptkommissarin und die österreichische Sabine hat schon ein Berufsleben als Verkäuferin, Produktionsfahrerin und Model hinter sich. Sie saßen da nicht nur zum Abnicken, sondern als Mitspieler und Gesprächspartner in der gemütlichen Plauderrunde, Leute wie der Alltag sie schafft. Ehrlich, Jürgen, ohne Blöff: Man ist angesichts des Alternativprogramms total baff und fragt sich nur, ob der Rest der Zuschauer auch die Nase von der üblichen Übersteuerung voll hat. Wegen der Quote, woll.


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