Gutes Gewissen

Medientagebuch Selbstbestimmte Stolpersteine: Fernsehen für "Menschen mit Behinderung"

Wie gibt man in einem optischen Medium Gefühle wieder? Wie stellt man Betroffene dar, die sich anders ausdrücken als "normal"? Wo bleibt der Unterhaltungswert bei einem Minderheitenprogramm unter dem allseits postulierten Quotendruck? Lauter falsche Fragen, wenn man im Öffentlich-Rechtlichen Fernsehen Programm macht. Denn dann sollte laut Programmauftrag (Bildung, Information, Unterhaltung) ein journalistischer Qualitäts-Anspruch entstehen, der alle Sendungen umfassen müsste und solche Überlegungen die Regel sein ließe. Also die Preisfrage: In welcher Redaktion wird man mit welcher Sendung dem immer noch geltenden Auftrag gerecht und informiert allseitig, hinterfragt kritisch, beleuchtet hintergründig und unterhält spannend, obwohl das Thema eigentlich sozial im Abseits steht und als absolut quotenuntauglich gilt?

Stolperstein heißt die Sendung, in der es um "Menschen mit Behinderung" geht, sie wird von der Redaktion Medizin im Bayerischen Rundfunk verantwortet. Redakteur Gerd-Heiko Steinert, der das Magazin 1996 entwickelt hat und seitdem betreut, wollte kein "Alibifenster", sondern Perspektiven aus dem Jammertal der Betroffenheits- und Betreuungsschiene bieten. Was dabei herauskommt, ist, auf einen Nenner gebracht, bester Journalismus der traditionellen Art.

Zum 50.Mal ist Stolperstein am 6. Januar zu sehen. Pünktlich zum Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderung, wie der neue Terminus heißt, werden Die Pianokinder gezeigt. Eine Reportage über gehörlose Kinder und Jugendliche in Nishni Nowgorod, dem ehemaligen Gorki, die in einer besonderen Schule durch integriertes Theaterspielen Selbstvertrauen gewinnen. Eine im wahrsten Sinne des Wortes wunderbare Welt, die für mehrere Überraschungsmomente sorgt. Zum einen rechnet niemand damit, dass im desolaten Russland solche künstlerischen Initiativen überhaupt möglich sind. Zum anderen erwartet man nicht von Gehörlosen, dass sie Musik und Texte als Schwingungen empfinden, die sie sehr wohl in ausdrucksstarke Bewegungen umsetzen können. Zum Dritten ist das nicht nur anrührend, wie sich für diese Kinder durch das Theaterspielen Perspektiven in die Normalität ergeben, sondern berührend zu erleben, wie sich beim Zuschauen auch für den Hörenden neue Welten eröffnen. Eine kleine halbe Stunde dauert die Sendung, die immer monothematisch mit einem positiven Beispiel beginnt, danach im Studio mit ähnlich betroffenen Gästen und Verbandssprechern kommentiert und durchaus kontrovers diskutiert wird, um mit Tipps und praktischen Ratschlägen abgerundet zu werden. Das ist journalistisch engagiert aufbereitet, intelligent moderiert und trotzdem informativ für alle, Behinderte wie Nicht-Behinderte.

A propos. Honoriert wird dieses "Format" guter alter journalistischer Schule sehr wohl von den Zuschauern, deren Prototyp im BFS empirisch bei "ab 55 aufwärts, weiblich" liegt. Sie treiben fleißig die Quote hoch, wenn es um Stolperstein geht, wohlgemerkt als Zufalls-Seher, denn es hat keinen festen Sendeplatz und eine der Quote eher abträgliche Sendezeit um 15 Uhr. Statt sich mit Stolperstein bundesweit zu profilieren, zumal es nichts Vergleichbares in anderen Anstalten gibt, lassen die Verantwortlichen des BR, prototypisch über 55 und männlich als auch weiblich, dieses gelungene Produkt in ihrem Haus links liegen und frönen lieber dem Jugendwahn, der Quotenkonjunktur hat.

Als Gewissensveranstaltung wird offenbar auch das Magazin selbstbestimmt! - Leben mit Behinderung in den Führungsetagen des MDR gesehen. Es läuft zwar im Wechsel mit dem Magazin für Hörgeschädigte regelmäßig einmal im Monat, allerdings dann, wenn "normale" Menschen garantiert mit anderen Tätigkeiten als mit Fernsehen beschäftigt sind, also jeweils an einem Samstag Vormittag um 8.30 Uhr, 9.30 Uhr oder 10.45 Uhr. Relativ unengagiert werden vorwiegend Service-Themen zur "Lebenshilfe" abgedreht, die von der neuesten Fahrzeugtechnik für Behinderte bis zum Modell-Integrationsbetrieb reichen. Das alles ist bunt, vielleicht auch in Einzelfällen hilfreich, aber eben auch sehr auf die Zielgruppe zugeschnitten und ungetrübt vom journalistischen Anspruch auf gesamtgesellschaftliche Integration. Die unkritische Nähe zu Politik und staatlichen Institutionen verwundert nicht, wenn der Blick auf Behinderte als "Mitmenschen" gerichtet wird. Mag sein, dass es daran liegt, was die Redaktion "Kinder und Soziales", die für selbstbestimmt! seit 1992 zuständig ist, als dem "modernen Sender MDR" angemessen preist, nämlich die Auslagerung der filmischen Produktionen an die Privatfirma One Impuls Leipzig. Wozu also noch öffentlich-rechtlich? So schnöde geht normalerweise das Kommerzfernsehen mit ethischen und journalistischen Maßstäben um.

Die älteste der drei Sondersendungen für Menschen mit Behinderung ist im ZDF beheimatet. "Fernsehunterhaltung mit sozialem Engagement", heißt es emphatisch im Rückblick auf 1964, als Peter Frankenfeld mit Vergissmeinnicht den ersten Spendenaufruf zur Aktion Sorgenkind verband. Das gute Gewissen wurde durch Loskauf und trällernde Schlagerstars erworben. Im Laufe der Jahre etablierte sich dann die Viertelstunden-Berichterstattung über die Größe der Spender: Die "größte Wurst" oder der "größte Kuchen" wurden regelmäßig von eifrigen Vereinen, Fleischunternehmen oder Dörfern präsentiert. Und weil das so schön ins Bild passte, flossen die Spenden reichlich. Bis heute hat die Lotterie ein Einspielergebnis von über 27 Milliarden Euro mit einem Reinerlös von knapp zehn Milliarden. Euro. Mit den Titeln - auf Aktion Sorgenkind folgte mach mit und heißt ab 2003 Menschen - das Magazin - veränderte sich die Perspektive und Machart um 180 Grad. Aus den kostenlosen Werbeminuten für bestimmte Spender und deren Unternehmen zur besten Sendezeit samstags um 17.45 Uhr ist ein flott moderiertes Kurz-Magazin über "Service-Aktionen zur Integration" geworden. Aus Opfern werden tatkräftige Akteure. Aus den Behinderten-Welten werden die Lebenswelten von Menschen mit besonderen Problemen ins Blickfeld gerückt Nur das "Traumhaus-Superlos" am Schluss bleibt. Kann man Äpfel mit Birnen vergleichen? Will ja niemand. Aber darauf hinweisen, wo man wie journalistische Ansprüche und Ethik befördert oder vernichtet. Damit Äpfel und Birnen auch in Zukunft unterscheidbar bleiben, und Journalismus von interessengeleiteter PR.

Menschen - das Magazin, ZDF, 4. Januar, 17.45 Uhr


Stolperstein - Die Pianokinder, BFS, 6. Januar, 15 Uhr


selbstbestimmt! - Leben mit Behinderung MDR, 25. Januar, 10.45 Uhr

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