Jetzt ist es endlich dokumentiert und kann von jedem besichtigt werden: Bis zum Untergang des Dritten Reiches war München nicht nur "die Hauptstadt der Bewegung", sondern auch deren Schoß, aus dem das nazistische Unheil kroch. Alles, was die Nationalsozialisten an ideologischem Quast hervorbrachten, seine brutale Durchsetzung und perfekte Organisierung, seine Finanzierung und Unterstützung, seine architektonische Planung und ästhetische Umsetzung, kurz, der Bodensatz und Überbau dieser "völkischen" Gemeinschaft verband sich in keiner anderen deutschen Stadt so dicht und wegweisend wie in der bayerischen Landeshauptstadt.
Umso beschämender, dass es nach Kriegsende 61 Jahre gebraucht hat, mehr als doppelt so lang, wie die Zeit der nationalsozialistischen Entwicklungsgeschichte dauerte, bis die Ausstellung "Ort und Erinnerung" in der Pinakothek der Moderne zeigen konnte, woher der die Gesellschaft durchdringende "Erfolg" der Nazis rührte und wie er zustande kam. Seine Protagonisten hatten schließlich alle Namen und Adressen, und dass sie jetzt ausgestellt werden, ist der Zähigkeit einiger weniger engagierter Bürger zu verdanken und nicht dem erklärten Willen der Bevölkerung oder ihrer politischen Repräsentanten.
"Das menschliche Gedächtnis funktioniert orts- und raumbezogen, Inhalte prägen sich über Orte besser ein und können entsprechend abgerufen werden", begründet der Leiter des Architekturmuseums, Winfried Nerdinger, in seiner Einleitung zum Katalog: "Wer ... die vorgestellten Bauten, an denen er vielleicht häufig achtlos vorbeigegangen ist, mit Wissen um Zusammenhänge und Hintergründe betrachtet, der kann mit den Steinen Geschichte verbinden, der wird hinter die Fassaden geführt und über Ereignisse, Mechanismen und Strukturen informiert, die ihn auch heute noch betreffen können."
Eine Topografie des Netzwerks, das München so lange aus seinem Gedächtnis verdrängt hatte, macht hier anschaulich, wo und wer hauptsächlich dazugehörte, wem die Nazis ihren Aufstieg verdankten, wer von der Vertreibung und -vernichtung allen "nicht-germanischen Blutes" profitierte und wem das alles noch nicht einmal nach dem Krieg zum Nachteil gereichte.
Dabei haben die Veranstalter dieser Forschungsreise, das Architekturmuseum der TU München in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv, auf adäquate Anschauungsmittel zurückgegriffen. Auf überdimensionalen Stadtplänen sind vom Zentrum bis an die Peripherie und darüber hinaus bis nach Dachau, wo bereits 1933 als Folge der "unerträglichen Überfüllung der innerstädtischen Gefängnisse und der Schreie, die die Anwohner störten", eines der ersten KZs gebaut wurde, in der Schau 100 Orte und im Katalog sogar 152 Bauten und Stätten markiert. An ihnen ist farblich nach acht verschiedenen Milieus unterschieden, welche Viertel, Straßen, Hausnummern, Firmeninhaber, Besitzer und Bewohner vom "Aufstieg der NSDAP" über "Verwaltung und Verbrechen" bis hin zu "Wirtschaft und Industrie" und "Durchdringung der Gesellschaft" das Flechtwerk der Nazis ausmachten.
Erläutert werden die nummerierten Orte auf schlichten Tafeln, denen man Schritt für Schritt nachgehen kann. Dass dabei überregional bekannte Großfirmen wie zum Beispiel Krauss-Maffei, BMW, die Flugzeugwerke Dornier, die Metzeler Gummiwerke und die Baufirma Leonhard Moll durch die Kriegsrüstungsproduktion boomten und ihre Firmenimperien Tausende von Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge ausbeuteten, ist nicht neu, hat aber nun viele Adressen. Über 400 innerhalb des Stadtgebiets und über 150 Außenlager gab es, in denen Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter sich in über 40.000 Fällen für Mittel- und Großbetriebe zu Tode schufteten. Immer wieder überkommen den Besucher vor den nüchternen Informationstafeln diese entsetzten Aha-Momente.
Und Münchens "bessere" Gesellschaft? Im Luxus- Hotel "Vier Jahreszeiten" tagte der bereits 1918 gegründete "Thule-Gesellschaft - Orden für deutsche Art", dem auch die Besitzer des Hotels, die Brüder Waltherspiel, angehörten und die als Nachfolgeorganisation "Bund Oberland" bis heute besteht, umbenannt 1956 vom Inhaber des Kaufhauses Beck, Gustl Feldmeier. Die einflussreiche und finanziell mächtige, logenartige Vereinigung ermöglichte 1920 den Erwerb des Völkischen Beobachters und legte damit den Grundstein für die mediale Klammer der NSDAP. Die feine Handschuhwaren-Fabrik Roeckl fabrizierte in Zusammenarbeit mit Degussa Gasmasken. Und "Hugo Boss" wie auch die nach wie vor von Adel und Münchner Bürgertum bevorzugte Marke "Loden-Frey" die Uniformen der Nazis. Der "unter den Augen der Öffentlichkeit staatlich betriebene Raubzug durch Arisierung jüdischen Besitzes" gehört zum Kapitel "Entrechtung, Verfolgung und Verbrechen".
Wer heute in München shoppen geht, wer vielleicht in einer der kleinbürgerlichen "Volkssiedlungen" lebt, wer im "Haus der Kunst" Ausstellungen besucht, wer seinen Arbeitsplatz genauer unter die Lupe nimmt, wer den leider viel zu schweren und unhandlichen Katalog auf seinen Stadtspaziergängen mitnimmt, um umgewandelte Parteigebäude und Kulturstützpunkte auf seinen Erkundungsreisen zu identifizieren, wird in jeder Nachbarschaft fündig werden. Es gab zwar eine Nazi-Herrschaft, aber vor allem eine Nazi-Gesellschaft. Den mit Täter-Institutionen und Personen-Markierungen übersäten Karten stehen nur 15 Einzeladressen von Orten des Widerstands gegenüber.
Die zähe Widerwille, sich mit der unrühmlichen Vergangenheit auseinander zu setzen, geht indes weiter: Erst nach jahrelangem Gezerre entschloss man sich, in München ein NS-Dokumentationszentrum zu bauen. 2008 soll es nun fertig gestellt sein. Befremdlich muss auch anmuten, dass sich die Stadtratsmehrheit und die israelitische Kultusgemeinde in einem Verbot der in anderen Städten längst etablierten "Stolpersteine", also Gedenktafeln im Straßenpflaster vor Wohnhäusern, aus denen Opfer des NS-Terrors deportiert wurden, zusammen fanden. Selbst eine Ausstellung darüber im Universitätsviertel wurde dieser Tage von Grünen und SPD-Stadtteilpolitikerinnen als "nicht zielführend" abgelehnt. Statt der Erinnerungsarbeit solle man, so die Politiker, bitte mehr "Zukunftsthemen" fördern. Keine Frage: Die Ausstellung "Ort und Erinnerung" ist beispiellos.
Ort und Erinnerung - Nationalsozialismus in München. Pinakothek der Moderne, Kunstareal Barer Straße 40 in 80333 München. Ausstellungsdauer: noch bis zum 28.Mai 2006. Katalog Verlag Anton Pustet, Salzburg, hrsg. von Winfried Nerdinger,
225 S., 24 EUR
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