Die Dekadenz ist mit den Händen greifbar: ein Prunkschloss in Berlin, in dem der Witwer und Privatbankier mit dem bezeichnenden Namen Goldfisch zum Pessah-Fest einen Ball für die Privatkunden seiner Bank gibt, kurz vor Kriegsausbruch 1914. Das Silber leuchtet, das edle Mobiliar glänzt, die aufgehübschten Damen strahlen, das Buffet ist üppig und das ergebene Personal zu Diensten. Man spielt, singt und tanzt Tango, ausgerechnet! Nicht umsonst hatte der Kaiser den "verwirrenden Tanz" verboten und Vater Goldfisch ihn seinen drei flügge werdenden Töchtern verbieten wollen. Die ältere indes ist immun gegen jedwede erotische Annäherung, die jüngste lebt ihr extremes Anderssein woanders aus, nur die mittlere, Ruth, schnappt sich dabei gleich den völlig verschuldeten und überrumpelten ("mein Fräulein, ich verspüre Wallung") Baron von Roll. Erfolgreich fädelt sie den Aufstand gegen pekuniäre und mosaische Bedenken ein, um ihrem Traum näher zu kommen, der ihrer Namensgeberin aus dem Alten Testament entspricht, nämlich ein Leben auf dem Land inmitten von Hühnern, Schweinen und Kirschplantagen, das für die Jüdin erst durch die Heirat mit dem christlichen Grundbesitzer möglich wird. Auf also nach Bleichrode, aus der ausgelassenen Weltstadt ins überschaubare Dorf, aus dem hochherrschaftlichen Ambiente ins herunter gekommene Gutsgemäuer. Und schon ist klar, worum es in dem Dreiteiler Die Kirschenkönigin geht, dessen letzte Folge am heutigen Freitag auf Arte ausgestrahlt wird und den ab nächsten Montag das ZDF sendet. Dies ist kein politisches Dokudrama, keine historische Leidensgeschichte, kein Wiedergutmachungswerk. Sondern ein weiblicher Lebenslauf zwischen 1914 und 1946, der ein Frauenschicksal aus dem jüdischen Geldadel nachzeichnet, durch zwei Weltkriege und Judenverfolgung hindurch. Dazu gehörten die Entwicklung der Hauptperson Ruth zur kapitalistischen Plantagenbesitzerin, das Verstecken vor den Nazis, die Chuzpe gegenüber den amerikanischen wie russischen Besatzern, die Autonomie aus der Mischung zwischen gläubiger Naivität und unerschrockenem Mut.
Warum auch sollte es nicht erlaubt sein, im deutschen Fernsehen Frauen zu zeigen, die schon vor 1968 und, nicht wahr, trotz jüdischen Glaubens, reichem Elternhaus und frühem Witwendasein emanzipiert waren? Johanna Wokalek macht als Ruth eine überzeugende und blendende Figur, schmilzt dahin, behauptet sich, wird unabhängig von den Konventionen ihres Abstammungsmilieus. Es wird in epischer Breite gelacht, geheult, geliebt, gefürchtet und gesehnt. War es nicht so, damals? Schicklich und schick bleibt Protagonistin Ruth dennoch in jeder Situation, egal, wie das Wetter ist und welche politischen und sozialen Umstände herrschen. Der elegante Pragmatismus ist für Frauen einer bestimmten Schicht typisch und insofern durchaus authentisch zu sehen. Autor Justus Pfaue hat in einem Interview erklärt, dass als Vorbild für die Ruth eine Tante gedient habe, und Regisseur Rainer Kaufmann hat daraus eine Hommage an eine Frau gedreht. Alle anderen Personen sind um sie herumgruppiert und dienen dazu, sie ins Licht des Geschehens zu stellen. Das Personal, klar. Aber auch August Zirner als Vater Samuel Goldfisch, der sich "ehrenhaft" nach dem Bankrott erschießt. Johannes Zirner als jugendlicher Liebhaber, der in die SS gezwungen, als Soldat verwundet und dank Ruths eisernem Willen von den Amerikanern rehabilitiert wird. Heike Warmuth als Tochter, die im katholischen Kloster die Nazis überlebt und sich danach von ihrem jüdischen, wendehälsischen Verräter und Ehemann trennt, um einen amerikanischen Besatzungsoffizier zu heiraten. Clemence Boué als jüngere Schwester, Bohème-Kommunistin und Mode-Lesbe, die damit ein Klischee erster Klasse erfüllt und mit ihrer Erzählerrolle aus dem Off zwischendurch die Handlung erklärt. Jürgen Tarrach als Hausschlachter und Bürgermeister sämtlicher Herrschaftssysteme, ein hemdsärmliger Prolet mit dem wegweisenden Instinkt für angesagte Machtverhältnisse. Jürgen Vogel als unglücklich verliebte Nazi-Figur. Unglücklich? Die Nazis kämen zu wenig vor und zu gut weg, wie man denn überhaupt "gute" Nazis darstellen könne, man würde keine Gräuel und nichts von den Kriegen sehen. Die Verrisse in der Tagespresse waren einmütig. Man kann sie für ein Missverständnis halten, ist der Dreiteiler doch biografisch angelegt, weder Schnulze nach Art der Rosamunde Pilcher-Seichtigkeit noch moralinsaure Vergangenheitsabrechnung, sondern unendlich romantisch. Kritik ist dennoch angebracht. Etliche Situationen verändern sich sprunghaft und sind so nicht nachvollziehbar. Die Dialoge vor allem im ersten Teil kommen einem oft nicht nur aufgesetzt, sondern albern vor. Auch wirken die Kostüme wie überhaupt die Ausstattung trotz der vorgegebenen Historientreue einfach zu sauber und maßgeschneidert. Und natürlich sind die Frauen, allen voran Ruth, viel zu schön und geschniegelt in jeder Lebenslage, als dass man ihnen die harten Schicksalsschläge abnehmen möchte.
Vielleicht zeigen Autor und Regisseur damit auch nur, dass ihre Sensibilität eben doch nicht ganz ausreicht, um sich in ein Frauenschicksal hineinzuversetzen. Was aber die Mahner betrifft, sei daran erinnert, dass dank der schauspielerischen Leistungen man sehr wohl eine Ahnung davon bekommt, unter welchen Bedingungen Menschen etwas tun oder eben auch einander antun, was rational nicht zu verstehen ist. Wer sagte noch mal, dass die Verhältnisse den Menschen prägen?
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