Man stelle sich vor, in Frankreich ist Präsidentschaftswahl - und keiner geht hin. Zugegeben, so übertrieben sprichwörtlich wird es nicht kommen. Aber die Angst vor geringer Wahlbeteiligung im ersten Wahlgang am 21.April greift schon um sich. Schließlich fällt das Datum in die Osterferien. Eine Briefwahl wie in Deutschland kennt man in Frankreich nicht. Nur ein ziemlich kompliziertes Verfahren, einem anderen Wahlberechtigten aus dem gleichen Stimmbezirk sein Stimmrecht zu übertragen. So werden wohl nicht wenige Stimmbürger lieber Ostereier suchen als den sechsten Präsidenten der V. Republik. Zum mangelnden Interesse hat auch beigetragen, dass es über weite Strecken ein Wahlkampf ohne Hauptakteure war beziehungsweise immer noch ist. Natürlich weiß jeder, die beiden Herren von klassisch rechts und klassisch links, die sich vor sieben Jahren so einen spannend-knappen Endspurt lieferten, ragen auch diesmal aus der Masse der Anfangskandidaten heraus. Aber beide - der amtierende Amtsinhaber Jacques Chirac (Rassemblement pour la République/RPR) wie der amtierende Premier Lionel Jospin (Parti Socialiste/PS) - sind bemüht, die zahlreichen aussichtslosen Bewerber auf Abstand zu halten. Sie wollen möglichst lange von der Würde ihrer aktuellen Ämter zehren.
Aus Jospins Hauptquartier heißt es, er werde seine Kandidatur am 22. Februar erklären. So weit wollte Rivale Chirac seine Ankunft in der Wahlkampfarena auch gern hinauszögern. Nur verdunkeln zu extrem unpassender Zeit Schatten der Vergangenheit die Ambitionen auf Künftiges. Der Schattenmann heißt Didier Schuller. Vor sieben Jahren, als Chirac Geld für seine Wahlkampagne brauchte, war er für den RPR ein fleißiger Geldbeschaffer. Im Département Haute de Seine westlich von Paris saß der Politiker an der Quelle. Er hatte Bauaufträge für den sozialen Wohnungsbau (kurz: HLM) zu vergeben. Bei derart begehrten Akquisitionen sind traditionell zehn Prozent "Provision" für die Parteikasse fällig. Neider oder ermittelnde Staatsanwälte nennen das gelegentlich Korruption. Nicht, dass andere Parteien mit Sinn für Pfründe solches nicht täten - man weiß es auch von Sozialisten, Liberalen oder Kommunisten -, nur kommt eben jetzt gerade der Fall Schuller Chirac wieder hoch. Der Zeitpunkt gibt zu denken, weshalb aus dem Umfeld des Elysée der böse Vorwurf zu hören war, der politische Gegner habe daran gedreht.
Der Ex-RPR-Geldbeschaffer ist vor knapp sieben Jahren ins sichere Exil nach Santo Domingo geflohen. Und ausgerechnet jetzt, im Wahlkampf, hat sein Sohn der französischen Staatsanwaltschaft gepetzt, wo Papa sich sonnt. Die Schuller-Tochter wirft daraufhin ihrem Bruder vor, er werde an seinem neuen Wohnort in der Schweiz von einer Sekte manipuliert. Wie dem auch sei - Jacques Chirac sah seine Umfragewerte fallen und hat sich entschlossen, ab 11. Februar den direkten Wahlkampf aufzunehmen.
Mit Brandflaschen begrüßt
Wer bisher Informationen zur Programmatik der Kandidaten vermisst, dem geht es wie dem französischen Wähler. Der nach dem Muster Blair/Schröder ebenfalls immer mehr zur Mitte driftende Sozialist Jospin unterscheidet sich in seinen Aussagen kaum vom klassisch-rechten Rivalen. Wirtschaftsliberalisierung, allerdings mit etwas mehr Staat als etwa in Deutschland, weiterer Abbau der Arbeitslosigkeit (dank vom Staat finanzierter Stellen für Jugendliche ist sie weniger hoch als in Deutschland) - und vor allem Sicherheit. Das dürfte das Schlagwort sowohl des Präsidentschafts- wie auch des kurz darauf folgenden Parlamentswahlkampfes sein. 57 Prozent der Franzosen bezeichnen Sicherheit als wichtigstes Anliegen. Wenn - wie in den USA - gemaßregelte Schüler eine Bombe auf den vollen Schulhof werfen, das Anzünden von Autos zum beliebten Wettbewerb der Zehnjährigen in den "Cités", den Sozialwohnungszentren, avanciert und sich keine Feuerwehr mehr ohne Polizeischutz hinwagt, weil sie mit Brandflaschen begrüßt wird, wenn dort selbst den Autos der Notärzte die Reifen aufgeschlitzt werden, weil die jugendlichen caîds de la cité zu erkennen geben, dass auf ihrem Territorium die Macht des Staates endet - dann ängstigt das den Bürger inzwischen mehr als Arbeitslosenzahlen.
De Gaulles Erbe
Der jetzt zu wählende Präsident wird wie gesagt der sechste in der V. Republik sein. Es gibt aber schon Überlegungen, ob nicht eine VI. Republik sinnvoller wäre. Dominique Strauss-Kahn hat den ketzerischen Gedanken in seinem Buch Die Flamme und die Asche formuliert. Jospins omnipotenter Superminister für Wirtschaft und Finanzen hatte vor zwei Jahren zurücktreten müssen, weil auch er in einen der zahllosen Skandale um irgendwie "nicht ganz legale Zahlungen" an Parteien und Privatpersonen verwickelt sein sollte. Jetzt hat ihn die Justiz rehabilitiert - und DSK wird schon als Regierungschef für das nächste Kabinett gehandelt, sollte bei den Sozialisten in beiden Wahlen alles zum Besten laufen. Strauss-Kahn traut sich nun zu sagen, dass Frankreich immer mehr von den Entscheidungen in der Welt abgekoppelt werde, weil sich durch das Verfassungssystem der V. Republik - einst von Charles de Gaulle auf die eigene Lage zugeschnitten - Präsident und Regierung aus verschiedenen Lagern gegenseitig blockierten. Die jetzt fünf Jahre dauernde "Cohabitation" ist die längste, die es je gab.
Bliebe noch zu erwähnen, wer sich noch alles zur Wahl stellen möchte fürs höchste Staatsamt. Ernst zu nehmen ist vor allem Jospins ehemaliger Parteifreund und Ex-Minister Jean-Pierre Chevènement. Aus dem Öko-Lager gibt es gleich vier Bewerber, wovon aber nur Noël Mamère wirklich auf Unterstützung rechnen darf. Für die Kommunisten tritt wie üblich deren Parteichef Robert Hue an, der auch schon längst nicht mehr über ein einstelliges Resultat hinauskommt. Links von ihm bekommt die Rekordkandidatin Arlette Laguiller von den Trotzkisten diesmal mit dem 25-jährigen Briefträger Olivier Bensancenot die Konkurrenz des eigenen Spektrums zu spüren.
Aus dem klassisch-konservativen Lager versichert François Bayrou von der UDF, er sein "kein Kandidat gegen Chirac", was immer das bedeuten soll. Klar gegen Chirac tritt hingegen dessen ehemaliger Parteifreund Charles Pasqua an. Von rechts außen kommt - wie gehabt - Jean-Marie Le Pen. Ob er es wie vor sieben Jahren im ersten Wahlgang auf erschreckende 15 Prozent der Stimmen bringen wird, hängt auch davon ab, wie sein vom Front National abgespaltener Ex-Adjudant und heutiger Rivale mit eigener Partei, wie Bruno Megrét agiert.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.