In Schlangenlinien fahren die Autos durch den Tegeler Forst. Hohe Wände aus Holz und aus Ranken winden sich rechts uns links mit, um Bäume und Tiere zu schützen. Mit der nördlichen Stadtgrenze aber wandelt sich Ökologie in Natur. Weit öffnet sich die Landschaft. Büsche und Kiefern begrenzen den Horizont. Ein Bär aus Metall, der lässig auf einem Steinsockel sitzt, winkt hinterher, und das Transitstreckenhoppeln beginnt.
Im Sommer dringt Kiefernluft ins Auto und im Herbst auch, im Winter oft Eisluft und selten Schneeluft. Weil die Straße direkt nach Norden führt, ist es im Mai, Juni um Mitternacht immer noch etwas dämmrig, schwacher Abglanz der weißen Nächte. Das regelmäßige leichte Ruckeln auf den Betonplatten hat sich in die Knochen eingegraben. Bilder steigen auf. Es sind immer dieselben Filmbilder. Eine junge Frau liegt im Badeanzug auf dem hölzernen Steg eines schwarzweißen Brandenburger oder Mecklenburger Sees und sonnt sich. Sie liegt ganz ruhig, aber nicht spannungslos da. Ihre Gesichtszüge wirken angenehm erwartungsvoll, als wisse sie, dass etwas auf sie zukommen wird. Sie ist nicht träge, sondern schöpft Kraft für einen zukünftigen Kampf. Das Wasser kräuselt sich leicht und plätschert gegen das Schilfufer. Das Bild ist perfekt, weil es keine Störung gibt oder zu geben scheint. Noch hält alles den Atem an.
Dann steigt eine ganze Sequenz auf. Die junge Frau amüsiert sich. Sie tanzt. Sie ist Lehrerin, und ihre Schüler haben sie zu einer Feier eingeladen. Der gescheiteste Schüler tritt plötzlich im Dunkeln zu ihr hin und fragt, sollen wir heute Nacht nicht etwas ganz Verrücktes unternehmen? Er ist in sie verliebt. Er hat das Auto seines Vaters zur Verfügung, einen alten schwarzen Kasten. Die Lehrerin lässt sich in berauschtem Übermut darauf ein. Wortlos fahren sie los, nach Norden, stundenlang durch die schwarzweiße Nacht, ohne jemandem zu begegnen. In der allerersten Dämmerung kommt das Auto auf einer Düne zum Halten. Die beiden laufen den Strand hinunter und begrüßen die schwarzweißen Wellen der Ostsee, die auf den Sand schwappen. Die beiden sind ausgelassen. Sie sind dabei, etwas Verrücktes zu tun. Sie haben entdeckt, dass sie an diesem Ort zu dieser Zeit allein auf der Welt sind. Sie küssen sich linkisch und zärtlich. Es gibt keine Störung oder es scheint keine zu geben. Dass die Lehrerin später strafversetzt wird, noch weiter nach Norden, spielt hier noch keine Rolle. Die Bilder der Erfüllung in der Einsamkeit sind perfekt. Die Ostsee wellt sich, der Strand ist breit und leer, und im Dünengras wartet das schwarze Auto mit den geschwungenen Kotflügeln.
Karla heißt die Lehrerin. Karla heißt der Film. Er war 1965 gedreht worden, einer der sogenannten Kaninchenfilme, die nicht gezeigt werden durften. Angeblich drohten die jungen Leute im Film sich zuviel Freiheit herauszunehmen, zuviel individuelles Glück zu beanspruchen. Liebesgeschichten, soweit sie sich nicht wieder ins Kollektiv auflösen ließen, konnten als verdächtig, geradezu anarchisch angesehen werden. Karla verschwand im Archiv, das erst 1990 geöffnet wurde. Seitdem steigen diese Bilder auf, wenn das regelmäßige leichte Ruckeln auf der Autobahn nördlich der Stadtgrenze beginnt. Jedes Mal tritt die Stimme ins Ohr, sollen wir heute Nacht nicht etwas ganz Verrücktes unternehmen, und der Wunsch taucht auf, einfach weiter zu fahren nach Norden und erst in den Dünen zum Halten zu kommen.
Doch in der letzten Zeit gibt es Veränderungen. Die Ostseeküste ist bunt und voll geworden. Holzwege schlängeln sich durch die Dünen, vor denen die Autos kostenpflichtig parken. Wer im Nationalpark vom Weg abgeht, muss Strafe bezahlen. Die amphibischen Regionen der Ostseelandschaft sind unzugänglicher geworden. Friesenfertighäuser wuchern in die Fläche. Lenkdrachen knattern im Wind, Motorboote heulen um die Wette und megalomane Luftmatratzen tänzeln auf den Wellen. Das ist keine Überraschung. Es ist auch keine Überraschung, dass die alte Betontrasse nördlich der Stadtgrenze abgetragen und durch eine glatte Asphaltdecke ersetzt wird, dass Abblendzäune den Ausblick verkleinern. All das war zu erwarten.
Aber die ausbleibenden Erschütterungen haben zur Folge, dass auch die Bilder von Karla ausbleiben. Sie entstanden unwillkürlich durch das Ruckeln und Hoppeln. Jetzt lösen sie sich im ebenmäßigen Dahingleiten auf. Sie lassen sich nur noch künstlich beschwören und werden schließlich doch gelöscht. Sie verwelken. Sie rascheln und fallen ab. Der Zorn der Götter richtet gegen die Willkür nichts aus. Die Knochen beginnen, anderes zu speichern.
Der Bär aus Metall winkt lässig hinterher, die Kiefernwälder duften im Sommer und im Herbst, und alle Bilder, die beim lautlosen Gleiten entstehen, sind jetzt neu und bunt.
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