Speckgürtel

Berliner Abende Kolumne

Das Rathaus im Speckgürtel ist bürgernah geworden. Es wirbt mit einem Strauß von Dienstleistungen ohne lange Wartezeiten, mit Online-Auskünften, mit Freundlichkeit. Und tatsächlich ist die gelassene Normalität einer neuen Zeit eingetreten.

Das war nicht immer so. Anfang der neunziger Jahre begannen Westberliner, ins Umland zu ziehen, und verwirrten den Rat der Gemeinde mit ihren administrativen Angelegenheiten. Eine Französischlehrerin aus Reinickendorf und ein ehemaliger Soldat aus dem französischen Sektor zogen ins Grüne und wollten heiraten.

Nach langen, enervierenden Monaten der Antragstellungen und Bewilligungsverzögerungen fehlte der Französischlehrerin noch ein Dokument, das im Rathaus erhältlich war. Der Korridor vor der Tür des Einwohnermeldeamts war dicht besetzt. Alle starrten sie an, als sie nach vorne durchging und vergeblich nach einem Nummernautomaten suchte, wie sie ihn von den Berliner Ämtern kannte. Niemand sprach. Es war keine ausgesprochen aggressive, aber eine hochgespannte Stille, die den Korridor ausfüllte. "Wo kann man denn hier Nummern ziehen?" fragte sie den nächstbesten Wartenden. "Nirgendwo", kam es knapp zurück. "Und woher weiß man dann, wann man an der Reihe ist?" "Sie müssen fragen, wer der Letzte ist." In der Antwort schwang ein wenig Spott mit. Sie blickte auf die Stuhlreihen rechts und links der Wände. Alle blickten kurz zurück, aber niemand sagte etwas. "Ja, und wer ist nun der Letzte?" fragte sie in den Flur hinein. Mittlerweile schauten die meisten Wartenden wieder vor sich hin. Niemand antwortete. Verzweiflung begann sich in ihr breit zu machen. Sie konnte gewissermaßen mit ansehen, wie lauter wartende Einzelpersonen sich angesichts dieser einen Fremden hier zu einer Phalanx aus Einheimischen, aus Angestammten, aus Ostlern zusammenschmiedeten. Auf ihre nochmalige Frage erfolgte wieder keine Reaktion. Da entschloss sie sich, einen Einzelnen direkt anzusprechen: "Sind Sie vielleicht der Letzte?" Auf sein Kopfschütteln hin sprach sie den Nächsten an. Der Fünfte in diesem Frage- und Kopfschüttelreigen erbarmte sich endlich: "Nein, ich nicht, aber fragen Sie mal den da!" Der da nickte beiläufig. Den vernichtenden Blick, den sie ihm zuwarf, nahm er nicht einmal wahr, weil er schon wieder vor sich hinstarrte.

Dem alten Ehepaar, das in den Korridor trat, posaunte die Französischlehrerin gleich "Ich bin die Letzte!" entgegen, woraufhin sich die alten Leute überrascht bedankten, denn so viel Entgegenkommen waren sie nicht gewohnt. Einige Wartende mussten über diese offensiv nach außen gekehrte Lernfähigkeit lachen, wenn auch verhalten. Doch sogar durch dieses gehemmte Lachen hatte sich die Spannung im Korridor beinahe aufgelöst. Das konnte selbst der nächste Eintretende nicht mehr rückgängig machen, ein Mantelmensch aus dem Westen par excellence. Mit selbstbewusstem Schritt durchmaß er den Gang, fummelte an seinem Handy herum und ließ alle sehr laut an seinem Telefonat teilnehmen: "Wenn du wüsstest, wo ich hier bin, es gibt ja hier nicht einmal einen Nummernautomaten, keine Ahnung, wie das hier funktioniert, so weit kommt es noch, daß ich jetzt alle fragen muss, wer der Letzte ist, was, ich ruf dich wieder an, es wird wohl ewig dauern." Die Wartenden starrten ihn an. Sie hassten den Mann und bewunderten ihn gleichzeitig, wie sie immer alle gehasst und bewundert hatten, die nicht nur als Objekte, sondern als Subjekt der Geschichte, wie privat auch immer, ihr Leben führten.

Nachdem die Lehrerin und der französische Soldat endlich alle Dokumente beisammen hatten, fanden sie sich mit ihren Gästen zur Trauung vor dem Rathaus ein. Es war ein warmer Sommertag und alle trugen leichte Kleidung. Die Papiere, Unterlagen und Pässe lagen wohlgeordnet im Standesamt. Als die Tür sich öffnete, sahen sie eine graue Standesbeamtin, die kaum den Kopf zur Begrüßung hob. Plötzlich schnarrte sie mit einer Kasernenhofstimme hervor: "Mäntel her! Pässe her! Ringe her!"Alle erstarrten. Die Gäste aus Frankreich zuckten leicht zusammen, verdrehten die Augen und dachten: "Oh, la Prussie!", während dem Hochzeitspaar die früheren Grenzkontrollen in den Sinn kamen. Noch einmal bellte ihnen die Stimme eines untergegangenen Systems entgegen: "Mäntel her! Pässe her! Ringe her!" Da murmelte die Französischlehrerin nur leise, dass sie gar keine Mäntel dabeihätten, die Pässe dem Amt seit Monaten bereits vorlägen und sie überhaupt keine Ringe zu tauschen gedächten. "Auch gut", sagte die Beamtin unbeeindruckt und schaltete gleichzeitig einen Casettenrekorder mit Musik von Richard Clayderman an, die niemand hören wollte und deren Klebrigkeit mit der vorhergegangenen Grobheit zu einer schallenden Ohrfeige zusammenschoss.

Das französische Ehepaar wohnt nicht mehr hier, aber von Südfrankreich aus erinnern sie sich nun nostalgisch dieser Jahre im Brandenburgischen.


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