Plädoyer für ein kirchenfreies Christentum

Christentum Wem gehört das Christentum eigentlich? Gehört es auch in ein linkes Forum?

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Mag die geistige Kultur nun immer fortschreiten, mögen die Naturwissenschaften in immer breiterer Ausdehnung und Tiefe wachsen, und der menschliche Geist sich erweitern, wie er will, - über die Hoheit und sittliche Kultur des Christentums, wie es in den Evangelien schimmert und leuchtet, wird er nicht hinauskommen.“ [1] Kein geringerer als Goethe, der oft auch eher als „Heide“ gesehen wird, hat in diesen Worten seine hohe Achtung für das Christentum ausgesprochen. Unabwendbar erfasst heutige Menschen sogleich das Bedürfnis, dieser Achtungsäußerung gegenüber die Pervertierungen des Christentums aufzuzeigen, so z.B. Kreuzzüge, Kirchenmacht mit unvorstellbarem Reichtum und eigener Staatsbildung (Vatikan), Inquisition mit brutaler Vernichtung esoterischer Strömungen, CDU/CSU (das C soll für christlich stehen!), süßliche Weihnachten, Gott mit Rauschbart, verschleierter Missbrauch im großen Stil usw. Was bleibt denn übrig, wenn man von all diesen Verirrungen absieht? Gibt es überhaupt etwas, auf das Goethe seine Achtung stützen kann?

Es überrascht nicht, dass Religion und Meditation in dieser Community häufig thematisiert werden. Deren Thematisierung basiert auf der Grundüberzeugung, dass Religion nicht mehr „Opium für das Volk“ sein, also nicht mehr vom Elend auf der Erde ablenken und auf ein Jenseits vertrösten darf, und dass in einer freien Gesellschaft alle Weltanschauungen, religiöse wie weltliche, und Übungspraktiken angeschaut werden und friedlich koexistieren dürfen; die traditionell vorrangige Religion des Abendlandes muss ihre Vorrangstellung nicht mehr behalten. Allerdings ist im Zuge der Öffnung für andere Anschauungen kaum etwas allgemein so sehr in Misskredit geraten wie das Christentum, auch aufgrund der oben genannten Verfehlungen. Da in letzter Zeit mehrmals über Zen bzw. Buddhismus debattiert wurde, möchte ich nun eine Betrachtung über das Christentum dazustellen…….

Ebenso wie der Islam ohne eine Kenntnis des Koran nur von außen gesehen werden kann (zurecht wird darauf immer wieder hingewiesen), kann man bei einer Be - oder Verurteilung des Christentums nicht auf ein Sich-Einlassen auf die Bibel verzichten. Dieses Buch ist kein Anleitungsbuch zum richtigen Leben, kein Nachschlagewerk für korrekte Verhaltensweisen; es bietet eine Mischung von historisch bedingten Narrativen, Gleichnissen, Weisheiten, inspirierten Stellen und Bildern, die sich vordergründigen Deutungen oft entziehen. Es hat wie kaum ein anderes religiöses Dokument eine klare Einteilung in neu und alt, und zwischen diesen beiden Teilen gibt es Beziehungen, aber auch Gegensätze. Außerdem können zum Neuen Teil die nicht in den Kanon aufgenommenen apokryphen Evangelien gezählt werden.

Dass das Christentum von einem geistigen Welt-Schöpferwesen ausgeht, ist eine Binsenweisheit, ebenso dass die Schöpfungsgeschichte nicht wortwörtlich zu verstehen ist; das gilt ähnlich auch für andere Welt- und Volksreligionen. Spreche ich vom Christentum, beziehe ich mich hauptsächlich auf das Neue Testament – die Evangelien, die Apostelgeschichte, die Briefe der Apostel und die Apokalypse, weil in diesen Büchern Christus, der Namensgeber dieser Religion, im Zentrum steht. Ein, wenn nicht das größte Hindernis für eine Akzeptanz des Christentums ist das schwer zu erringende Verständnis der Aussage, dass Gott einen Sohn habe, diesen in die Welt geschickt und den Kreuzestod habe erleiden lassen. Schauen wir einmal eine zentrale Stelle im Neuen Testament an, von der diese Aussagen hergeleitet werden, nämlich den Beginn des Johannes-Evangeliums: „Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort……“ Diese kurzen Zeilen kann man entweder wegen Unverständlichkeit zurückweisen (dann sollte man aber auch nichts weiter dazu sagen), oder man kann sich ihnen nach und nach annähern. Auf jeden Fall wird spürbar, dass alles vordergründige, unserer materiellen Umwelt entlehnte Vorstellen hier nicht weiterhilft; man betritt eine Ebene, auf der auch die Sprache nur noch Hinweischarakter hat. Vater (Gott) und Sohn stehen in einer Weise zueinander, die nicht als eine Vater-Kind/Herr-Knecht –Beziehung zu verstehen ist, sondern eher als die von Freunden. Hier wird ahnbar, dass zu dem Schöpferwesen von Ewigkeit her ein Du gehört, dass der Grund des Seins auch Wandel und „Verjüngung“ einschließt, woraus „Welt“ entstehen kann. (Dies ist ein Deutungsversuch dieses Evangelienbeginns in knappen Worten, der keinen Ausschließlichkeitsanspruch erhebt, mit dem aber zumindest darauf hingewiesen werden soll, das sich an dieser Stelle mit dem Denken auch das Urteilen über den Alltag erheben muss.)

Und das Wort ward Fleisch…..“ Hier wird ein Heraustreten aus dem so schwer fassbaren höheren Bereich in die Erdenwelt geschildert; Gott- besser gesagt: ein Teil Gottes - verbleibt nicht in der Enthobenheit, sondern steigt in die geschaffene Welt hinab. Nun mag man daran erinnern, dass es Ähnliches oder ähnlich Scheinendes auch in anderen Religionen gibt; wo aber geht dieser Abstieg bis auf die unterste Ebene des Menschlichen, wo wollte an anderer Stelle ein Gott nicht eher Sieger in der Teilnahme an Kämpfen und Liebschaften auf der Erde sein? Christus geht hinab bis zur Gebärde des völligen Dienens; z. B. wäscht er den Jüngern ihre Füße. Versuchen wir auch hier eine Deutung über den Alltag hinaus, so erkennen wir eine Heiligung des Erdenwegs der Menschen; das tragende, die Erde berührende Organ des Körpers wird vom Gotteswesen demütig berührt, der „Staub“ des Fehl-Gehens wird abgewaschen.

Aber der Weg geht noch weiter. Vor längerer Zeit forderte ein Bekannter von mir angesichts der entsetzlichen Zustände auf der Erde, es müsse doch einmal ein Wesen von einem anderen Stern kommen und den Menschen zeigen, was für einen mörderischen Unsinn sie treiben und wie sie vernünftiger leben könnten. Dieser Aussage kann man nur zustimmen, darf aber nicht vergessen, dass hinter den menschlichen Verfehlungen die Angst der bedrohten Existenz steht, die Angst, durch erlittenen Machtmissbrauch, Hunger, Krankheit, Armut, Unterdrückung, Mord aus dem Lebenszusammenhang brutal herausgestoßen zu werden. Ein Wesen anderer Herkunft, das die Menschen belehren sollte, müsste ihnen helfen, diese Bedrohung zu überwinden, und das könnte es nur, wenn es selber sie erlebt hätte. Es müsste den Tod kennen, durchleiden – und überwinden. An dieser Stelle verschließt man gern die Augen vor der zentralen Botschaft des Christusweges: Es ist das beispielhafte Überwinden des Todes, der Grundbedrohung der menschlichen Existenz. Auferstehung ist das Element, das Christus dem Leben auf der Erde neu einfügt. Auch dem gegenüber kann man sich mit einer Bemerkung wie „Unsinn“, „Wie soll denn das gehen?“ abwenden, kann sich aber auch langsam herantasten. Auch wenn niemand eine so konkrete Auferstehung von den Toten bisher selber dargelebt hat, zeigen doch Erlebnisse der inneren Wandlung, des Wiederfindens scheinbar verlorener Kräfte nach tiefsten Erschöpfungen und zunehmend häufige spirituelle Erlebnisse, dass die Grenze zu Erfahrungen tieferer Seinsschichten durchlässig wird – Erlebnisse, in denen Brührungen mit der anderen Sphäre zu spüren ist.

Auf die zahlreichen Gleichnisse und viele andere Aspekte in den Evangelien möchte ich hier nicht weiter eingehen. Deutlich dürfte aber werden, dass die Entartungen des Christentums, der Prunk, den die Kirche aufgebaut hatte, mit dem einfachen Leben des Christus und seinem Wirken rein gar nichts zu tun hat. Allerdings habe ich den Eindruck, dass es kaum eine Weltanschauung oder Religion gibt, die nicht Missachtung ihrer Wohlfahrts – oder Heilsaspekte und - vielleicht sogar gewollt - Verbiegung ihres eigentlichen Wesens erleiden musste.

Es gibt neben den oben erwähnten Esoterikern viele bekannte Christen, die im christlichen Sinne gelebt haben: Franz von Assisi, die „Ketzer“, Dietrich Bonhoeffer ….. Als einen, der aufgrund seines tieferen Verständnisses noch bis in unsere Zeit wegweisend ist und Verbindungen schaffend wirkt, sei Meister Eckhart (ca. 1260-1328), Dominikaner, gelehrter Scholastiker und Generalvikar, genannt. Aus Platzmangel gehe ich hier nicht auf den interreligiösen Dialog ein, den sein Werk seit neuestem hervorgerufen hat. Obwohl er 600 Jahre lang in Vergessenheit geraten war, ist er ein moderner Denker. Klar, dass er die Bibel genau kannte, dennoch war sein Interesse für die historische Situation des Geschilderten marginal; seine Aufmerksamkeit galt dem, was geschieht, wenn man für Christus aufnahmefähig ist. Für Eckhart ist die Gottesgeburt nicht an ein Geschichtsdatum gebunden, sondern etwas, das sich im Menschen vollziehen muss. Angelus Silesius drückte es 400 Jahre später so aus: „Wär‘ Christus tausendmal zu Bethlehem geboren/und nicht in dir/du bliebst doch ewiglich verloren.“ Zugang zum Göttlichen als dem Quell des Lebens zu finden, zugleich aber die Erfüllung der Notwendigkeiten des Alltags zu bewerkstelligen, ist für Eckhart eins: „Da draußen stehen wie drinnen/Begreifen und umgriffen werden/Schauen und zugleich das Geschaute selbst sein![2] Hier sei darauf hingewiesen, dass entgegen der landläufigen Vorstellung Eckharts Leben kein beschauliches hinter Klostermauern war, sondern ein durch entbehrungsvolle Reisen und Strapazen geprägtes. Die auferlegte Mobilität und das Armutsgelübte deuten auf eine körperliche Robustheit hin, ohne die er die beschwerlichen wochenlangen Fußmärsche nicht bewältigt hätte.

Eckhart entfernt sich von einer Vorstellung von einem Gott, zu dem man zur Wunscherfüllung betet: „Etliche Leute wollen Gott genauso minnen wie sie eine Kuh liebhaben. Die Kuh, die minnest du um die Milch und um den Käs, um deinen eigenen Nutz. So tun alle jene Leute, die Gott minnen um auswendigen Reichtums oder um einwendigen Trostes willen. Solche Leute…minnen ihren eigenen Nutzen. Und wahrlich: Solches Meinen wird dir zum Hindernis auf dem Weg zur allernächsten Wahrheit.[3] Er ruft dazu auf, entbehren zu lernen, was nicht nötig ist, um inneren Freiraum für das Eigentliche zu schaffen.

Als Dominikaner und theologischer Lehrmeister war Eckart gebildet und kannte sich in der Scholastik aus; dennoch lag ihm viel daran, ungebildete Menschen zu erreichen; deswegen verfasste er viele Werke in deutscher Sprache, die er mit seinen Wortneuschöpfungen auch bereicherte (im Gegensatz zur Kirche, die die Messe und das Evangelium auf Latein vermittelte). Vorstellungen von Hölle, Teufel und Strafen fehlen bei ihm oder werden ganz anders gedeutet: „Aber das, was du Böses tust, das tust du dir selbst zum Schaden, und es wird dir wehe genug tun.“[4]

Eckarts Hauptbeitrag zu einem Verständnis des Christentums liegt in der „Verlegung der Transzendenz nach innen“.[5] Das Sich-Vertiefen in die Bibel war demnach nicht eine Auseinandersetzung mit Vergangenem (und gewissermaßen Nachwirkendem), sondern meditatives Erfassen und inneres Berührtwerden, das die Gegenwart neu durchdringt. Kein Wunder, dass er nicht im Sinne eines kirchlichen Moralkodex arbeitete, die aus der falsch verstandenen Metapher von Hirte und Schaf die Gläubigen nicht nur hütete, sondern den richtigen Weg vorschrieb und nicht zögerte, ihn für Abtrünnige auf dem Scheiterhaufen enden zu lassen.

Eckart gehörte zu den großen Gelehrten seiner Zeit, wurde zweimal an die Universität nach Avignon berufen, schrieb lateinische und deutsche Werke, betreute Klöster und Laien, fand auch Zeit zu Einkehr und Meditation, musste sich am Ende aber den Vorwurf der Häresie gefallen lassen; während der Prozesstage verstarb er. -

Ich habe versucht, ein paar Schlaglichter auf sein vom Einklang des Denkens mit dem Handeln geprägtes Leben und sein gewiss nicht immer leicht verständliches Werk zu werfen. Was würde er, so er heute lebte, vermutlich denken und tun? Er würde sich wohl Wissen nicht vorrangig im Rahmen der Theologie aneignen, was damals nicht anders möglich war. Heilslehren würde er, seien sie politisch oder religiös, mit seinem scharfen Verstand hinterfragen. Wenn er früher schrieb: „Wäre einer in solcher Verzückung wie weiland St. Paulus und wüsste einen siechen Menschen, der eines Süppleins von ihm bedürfte: ich achtete es weit besser, er ließe von Liebe und Verzückung und diente Gott in einer größeren Minne[6].“ , so würde er sich heute mit Gedanken der Brüderlichkeit (bzw. Sozialität) im Wirtschaftlichen tragen und es wahrscheinlich nicht scheuen, sich dabei selber in Gefahr zu begeben. Im Luxus würde er ohnehin nicht leben wollen; wie Erich Fromm, der sich auf Meister Eckhart bezieht, würde er den Wert des Seins vor dem des Habens erkennen und öffentlich vermitteln. Er würde die Humanpsychologie, die den Menschen aus seiner Entfremdung herausholt, unterstützen; Vorschriften bei der persönlichen Lebensgestaltung würde er nicht machen, Frauen selbstverständlich als gleichberechtigt ansehen und alternative Lebensformen propagieren. Vielleicht gelänge ihm das Unmögliche: Wissenschaft und menschengemäße Lebensgestaltung mit christlicher Spiritualität zu verbinden aus dem Wissen, dass Erkenntnis und Sozialität ohne die immer wieder zu erringende Neugeburt im Inneren des einzelnen Menschen in der Gefahr sind, sich zu vereinseitigen. Ja, ein neuer Meister Eckhart, egal ob als Mann oder Frau, könnte die Daseinsberechtigung des Christentums als einer Quelle eigentlichen Lebens wieder zu Akzeptanz verhelfen und, wenn auch Goethes Einschätzung der „sittlichen Kultur“ des Christentums außerhalb der Kirche konkret werden lassen.


[1] Goethe, Gespräche mit Eckermann

[2] Gerhard Wehr: Meister Eckhart, rowohlts monografien 2008, S. 91

[3] Meister Eckehart: Vom Wunder der Seele, Reclam 1966, S. 68.

[4] Ebenda S. 40

[5] Dietmar Mieth: Meister Eckart, C.H. Beck 2014, S. 134

[6] Meister Eckehart: Vom Wunder der Seele, Reclam 1966, S. 68

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

roswitha

"Schreibtafel her! Ich muss mir's niederschreiben, Dass einer lächeln kann, und immer lächeln, Und doch ein Schurke sein..." (Hamlet)

roswitha

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden