Shakespeare zum "450. Geburtstag"

Biografie. Shakespeare: Wer ist das? Ein Skandal der Literaturgeschichte. Geschrieben im Jahr 2027.

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Es gibt sie und gab sie - jene, die ihrer Beobachtung mehr trauten als den vermeintlichen Wissensinhabern: Ignaz Semmelweis‘ Ideen zur Hygiene waren bahnbrechend, wurden zunächst aber als spekulativer Unfug abgelehnt , obwohl zu sehen war, dass die Sterblichkeitsrate Gebärender durch die Desinfektion der Ärzte sank. Alfred Wegeners Theorie der Kontinentalverschiebung, zunächst Gegenstand öffentlichen Spotts der etablierten Gelehrten, war ein paar Jahrzehnte später in jedem Erdkunde-Schulbuch zu finden. Wie Semmelweis starb auch er, ohne je für seine Verdienste gewürdigt worden zu sein - im Gegenteil.

Ein ähnliches Strickmuster war bei unserem Thema zu beobachten: das halsstarrige Festhalten an einer Biographie, die mit den Werken Shakespeares auch nicht im Entferntesten in Verbindung zu bringen ist, sieht man einmal davon ab, dass dieser Name auf der ersten Folio-Ausgabe stand. Ganz besonders schwer taten sich die Vertreter der Literaturwissenschaft; das Hauptargument dagegen hieß zunächst: „Wir brauchen doch seine Biografie nicht. Die Werke sind entscheidend.“ Die Schizophrenie dieser Aussage lag darin, dass pro Jahr eine stattliche Anzahl neuer Shakespeare-Biographien geschrieben wurden, immer wieder die wenigen Fakten anders formulierend (hätte sein können….), ergänzend, den Hauptschwerpunkt ganz allgemein auf die Elisabethanische Zeit legend usw. Widerstand dagegen? Null, etwas genauer gesagt: noch viel zu wenig. Die Suche nach dem richtigen Kandidaten bescherte dem Büchermarkt bis zum Jahr 2014 durchaus einige Veröffentlichungen.[1] Insgesamt ist dabei zu konstatieren, dass sich außerhalb des literaturwissenschaftlichen Kreises Ärzte, Richter, Anthropologen, Historiker usw. der Frage vorbehaltloser näherten als die Mitglieder der Literaturfraktion; so mancher der letzteren schwieg lieber wider bessere Einsicht, um dem Gruppendruck auszuweichen und seine Karriere nicht zu gefährden. (Denn er hätte sie fraglos gefährdet!)

Ich werde zuerst die wichtigsten Fragen, die mit dem Stratforder Kandidaten, dem Träger des Namens William Shakespeare, zusammenhängen, erwähnen, dann die möglichen Antworten und zu guter Letzt die Konsequenzen einer historisch verständigen Sichtweise aufzeigen.

  1. Als der größte Dramatiker der Weltliteratur starb, gab es keine Nachrufe kein Staatsbegräbnis, keine öffentliche Trauer. Bedenkt man, dass für Philipp Sidney (nie gehört?) oder Edmund Spenser (nie gehört?) eine Art Staatsbegräbnis inszeniert wurde und dass beim Tod des Schauspielers Richard Burbage (auch nie gehört?) in „London kein Auge trocken blieb“[2], so ist das Schweigen beim Tode Shakespeares schon bemerkenswert. Ein besonders „gelungener“ Versuch, dieser Seltsamkeit Rechnung zu tragen, ist die Formulierung: „Er starb unaufdringlich“.[3] So konnte man unangenehme Fragen geschickt zudecken. Shakespeares Schwiegersohn, Dr. John Hall, hat die Krankengeschichten all seiner Patienten detailliert aufgeschrieben, seinen berühmten Schwiegervater hat er nicht erwähnt. Als Shakespeares Tochter Susanna von dem Militärarzt James Cooke 1642 in Stratford gebeten wurde, ihm die Manuskripte oder Bücher ihres Vaters zu zeigen, bemerkte er überrascht und enttäuscht, dass sie von solchen Schriftwerken überhaupt keine Kenntnis hatte. Sie selber konnte übrigens nur mit Mühe ihren Namen schreiben.
  2. Der Schreiber der Werke muss sich in der Aristokratie bestens ausgekannt haben. Seine Geisteshaltung kann man als die eines der Monarchie zugeneigten Romantikers bezeichnen, der die Rechtmäßigkeit der feudalen Gesellschaftsordnung verteidigt. Selbst in den Komödien wird die soziale Hierarchie nie in Frage gestellt; die Klasse der Händler und die Mittelklasse spielen dort nur eine untergeordnete Rolle. Aufstrebende Bürgerliche, wie der Stratforder Kandidat einer war, gibt es in ihnen nicht.

Der Autor besaß subtiles Wissen z.B. über Seefahrt, Falknerei, Gerichtswesen, beherrschte mehrere Sprachen und kannte sich in Italien, wo ein guter Teil seiner Werke spielt, genauestens aus. Vermeintlich falsche Angaben zur Geographie Italiens, über die sich Generationen von StudentInnen mokierten, stellten sich im Nachhinein als richtig heraus.[4] Es ist nicht nachzuvollziehen, woher der Stratforder Kandidat zu diesen Einsichten gelangt sein sollte. In seinem Testament erwähnt er keine Bücher. Er war ein zu großem Reichtum gelangter, geschickter Geschäftsmann. Wieso also unternahm er nichts, um Honorar für seine Werke zu erlangen, z.B. für die Sonette? Als er starb, existierten mindestens 16 Dramen, die 1623 zum ersten Mal im Druck erschienen. Wenn er tatsächlich für Bezahlung geschrieben haben sollte, ist es unverständlich, warum er als gewiefter Geschäftsmann den Marktwert der Stücke nicht ausgenützt hat.

3. Wir besitzen über den Stratforder sehr viele Dokumente; sie alle zeigen einen Geschäftsmann, der auch in Rechtsstreitigkeiten verwickelt, in Gelddingen kleinlich war und dem Steuereinzieher gern ein Schnippchen schlug. Aber literarische Werke, Briefe oder Hinweise auf die Verbindung seiner Biografie mit dem literarischen Schaffen – davon besitzen wir nichts. Seine sechs erhaltenen Unterschriften haben keinen Bezug zu Dichtungen oder irgendwelchen Veröffentlichungen und unterscheiden sich außerdem frappierend voneinander. Selbst in Stratford gibt es keinen Hinweis darüber, dass er ein Schriftsteller war; bekannt war er nur als Kornhändler und Grundbesitzer. Sein Monument in der Stratforder Kirche ist nicht im Original erhalten. Abbildungen aus dem 17. Jhd. zeigen einen Mann, der einen Getreidesack unter den Händen hält und nicht jemanden, der auf einer Kissenunterlage schreibt (was eine spätere aus der ursprünglichen Vorlage machte). In der Folio-Ausgabe von 1623 wird sein Wappen, auf dessen Erwerb Shakespeare so stolz war, nicht abgebildet. Sie enthält aber in zwei Zierleisten den Caley Greyhound, ein Wappen des Grafen von Oxford. Es gibt zunächst keinen Grund (Verwandtschaft, Geschäftsbeziehungen…), warum der Stratforder sich mit der Heraldik des Edward de Vere verbinden sollte.

Diese Beispiele sollen die wichtigsten Ungereimtheiten der Verfasserschaftsfrage verdeutlichen. Genaueres ist auf der Website der Neuen Shakespare-Gesellschaft zu finden, die sich in ausführlichen Untersuchungen dieser Frage widmet.[5]

Nun aber zur entscheidenden Frage: Wer kommt als wahrscheinlichster Kandidat in Frage und warum veröffentlichte er nicht unter seinem Namen?

Grundsätzlich: Auch diejenigen, die Edward de Vere, den 17. Earl of Oxford als den geeignetsten Kandidaten sehen, sind, wie alle Forschenden, Missdeutungen unterworfen. Vor allem, wenn man schnelle Antworten will und einen gewissen Sensationsgehalt liebt; so gibt es, um nur ein Beispiel zu nennen, diejenigen, die meinen, de Vere sei eigentlich ein illegitimes Kind von Elisabeth I. Es gibt keine Dokumente, die diese These stützen. Mag auch die Begründung für das Verstecken des wahren Shakespeares dadurch schnell erklärbar sein, so ist sie doch nicht nachvollziehbar. Zwei Bücher sollen in diesem Zusammenhang erwähnt werden: 1) Robert Detobel: Wie aus Shaxsper Shakespeare wurde, Neues Shake-speare Journal Band X, Verlag Uwe Laugwitz 2005, und 2) Walter Klier: Der Fall Shakespeare, Verlag Uwe Laugwitz 2004. Ersterer hat durch jahrzehntelange Kleinstarbeit eine ungeheure Fülle von Fakten ans Licht gebracht, die zum Umdenken in der Verfasserschaftsfrage einladen, und Kliers Buch ist ein exzellentes Nachschlagewerk. Beide Bücher gehören (eigentlich) in die Bibliothek eines jeden Anglistik-Seminars.

Dass die Zweifler sich in guter Gesellschaft befinden, sei hier auch einmal erwähnt: Mark Twain, Sigmund Freud, Charles Dickens, Ralph Waldo Emerson, Heinrich Heine und viele andere namhafte Persönlichkeiten fanden hinreichende Gründe, die Verfasserschaft William Shakespeares in Frage zu stellen.

An dieser Stelle möchte ich nicht versäumen, darauf hinzuweisen, dass Thomas W.7o im Jahr 2011 ein Plädoyer für Edward de Vere als den eigentlichen Kandidaten hielt: https://www.freitag.de/autoren/thomas-w70/wer-schrieb-shakespeares-werke-ein-pladoyer-aus-aktuellem-anlass

Ich stimme nicht mit allen seinen Thesen überein, sehe aber die biographischen Parallelen, die er vor allem dem Buch eines Nicht-Oxfordianers, Alan Nelson, entnahm, im Großen und Ganzen genauso. Die wichtigsten Schlaglichter: Edward de Vere, der 17. Earl of Oxford, war, da sein Vater starb, als Mündel unter den Fittichen des Lord Burghley (ein negatives Denkmal hat Oxford ihm in der Figur des Polonius im Hamlet gesetzt), war mit dessen Tochter verheiratet, hatte Zugang zu erstklassigen Bibliotheken, erlebte straffe Erziehung und Bildung, die unserem heutigen Bachelor-Studium in nichts nachsteht, reiste für längere Zeit nach Italien, erlebte tiefste Eifersucht, stand im Dienst der Königin als Lord Great Chamberlain (Großkämmerer), hatte eine Affäre mit einer Hofdame, kam dafür in den Tower, verarmte nach dem Tod seiner ersten Frau, heiratete in zweiter Ehe Elisabeth Trentham, verstarb körperlich teilweise gelähmt im Jahr 1604.

Die bedeutsamste Frage in diesem Zusammenhang ist, warum Edward de Vere ein Pseudonym brauchte und seine Werke nicht einfach unter seinem Namen veröffentlichte. Ohne eine genaue Kenntnis der historischen Umstände, d.h. der Wertvorstellungen und des Verhaltenskodex des Adels, gelangt man nur zu platitüdenhaften Erklärungen. „Es ist für einen Lord wahnwitzig, Verse drucken zu lassen, es ist mehr als genug, wenn er sie schreibt, ums sich selbst zu gefallen, aber sie publik zu machen, ist wahnwitzig.“ Dieses Zitat des Juristen John Selden (1584-1654)[6] verdeutlicht, was für einen Adeligen tabu war; die höfische Ethik, eine umfassende Verhaltensethik, hatte genaue Regeln, deren Nicht-Einhaltung zum Ausschluss aus dem Adel führte. Offenbar hielten sich die Aristokraten dran. In einem 1589 erschienenen, anonym übrigens, Buch über Stilkunde, The Art of English Poesie, schreibt der Verfasser, dass in Elisabeths Regierungszeit eine Reihe anderer höfischer Dichter, Edelleute und Gentlemen, in Erscheinung getreten seien, „die ausgezeichnet geschrieben haben, wie man feststellen würde, wenn ihr Werk öffentlich gemacht würde, von denen an erster Stelle Edward, Earl of Oxford, zu nennen ist.“[7] Der nicht selten gegen Edward de Vere vorgebrachte Einwand, wieso er freiwillig auf den Ruhm verzichten würde, sagt fast nichts über die damalige Zeit und alles über die Ahnungslosigkeit des Fragestellers aus. Es gab diesen rigiden aristokratischen Verhaltenskodex, den zu missachten für einen Hofmann der soziale Tod bedeutete. Ebenso verpönt war es diesem ungeschriebenen Kodex zufolge in der Öffentlichkeit (nicht im privaten Kreis) als Schauspieler aufzutreten. De Vere hatte durch diese seine Tätigkeit den Verhaltenskodex schwer verletzt und sich damit in das soziale Ausgestoßensein hineinmanövriert. Etliche Sonette haben dies zum Thema und ergeben erst einen Sinn in diesem höfischen Kontext. Dass er den Namen William Shake-speares, eines unbedeutenden Schauspielers, als Pseudonym annahm, war für sein Überleben in der Aristokratie notwendig. Vor dem Hofe, in geschlossener Gesellschaft, konnten seine Dramen sehr wohl aufgeführt werden, aber öffentlich zu werden ziemte sich nicht.

Oxfords Anerkennung der feudalistischen Gesellschaft hat aber noch eine Kehrseite; nichts war ihm mehr zuwider als Schein, so entlarvte er ihr „Scheinleben“ in jeder Hinsicht. Er kritisierte dieses Leben sozusagen von innen. Ist davon etwas geblieben, das der heutigen Zeit ebenso als Spiegel dienen könnte? Man kann irgendein Drama aufschlagen und wird viele Stellen finden, die direkt übertragbar sind. Ein Beispiel:

Bassanio.
- So ist oft äußrer Schein sich selber fremd,
Die Welt wird immerdar durch Zier berückt.
Im Recht, wo ist ein Handel so verderbt,
Der nicht, geschmückt von einer holden Stimme,
Des Bösen Schein verdeckt? Im Gottesdienst,
Wo ist ein Irrwahn, den ein ehrbar Haupt
Nicht heiligte, mit Sprüchen nicht belegte,
Und bürge die Verdammlichkeit durch Schmuck?
Kein Laster ist so blöde, das von Tugend
Im äußern Tun nicht Zeichen an sich nähme.
Wie manche Feige, die Gefahren stehn
Wie Spreu dem Winde, tragen doch am Kinn
Den Bart des Herkules und finstern Mars,
Fließt gleich in ihren Herzen Blut wie Milch!
Und diese leihn des Mutes Auswuchs nur,
Um furchtbar sich zu machen. Blickt auf Schönheit,
Ihr werdet sehn, man kauft sie nach Gewicht,
Das hier ein Wunder der Natur bewirkt,
Und die es tragen, um so lockrer macht.
So diese schlänglicht krausen goldnen Locken,
Die mit den Lüften so mutwillig hüpfen
Auf angemaßtem Reiz: man kennt sie oft
Als eines zweiten Kopfes Ausstattung,
Der Schädel der sie trug, liegt in der Gruft. (Kaufmann von Venedig, 3,2)


Oft wird bei Theateraufführungen als Verständnis-Untermauerung ein Bild der in der Jetztzeit lebenden Menschen eingefügt, damit erkennbar wird, auf wen Anspielungen wie im Text oben heute gemünzt sein könnten. Die LeserInnen werden selber unschwer Parallelen finden. Sein und Schein war ein zentrales Thema in Edward de Veres Werken ebenso wie in seinem Leben.

Bleibt noch die Frage offen: Was haben wir nun davon, zu wissen, wer der wahrscheinlichste Kandidat ist? Ich beantworte diese Frage nur, wenn mir jemand überzeugend erklären kann, dass es unbedeutend sei, zu wissen, wer Goethe, Schiller, Hölderlin, Novalis, Paul Celan, Oscar Wilde, Bert Brecht, Vincent van Gogh, Frank Kafka usw. waren und wie sich Leben und Werk bei ihnen durchdrangen. Ich meine, es gibt berechtigtere Fragen.


[1]Z.B. Shakespeare Beyond Doubt, edited by John Shahan and Alexander Waugh, Llumina Press 2013

[2] Charlton Ogburn: The Mysterious William Shakespeare,McLean 1984, S. 112.

[3] Ulrich Suerbaum, Das Elisabethanische Zeitalter, Reclam 1998, S. 327.

[4] Richard Paul Roe: The Shakespeare Guide to Italy, HarperCollins 2011.

[5] www.shakespeare-today.de

[6] John Selden, The table-Talk of John Selden, London 1896, S. 96

[7] The Arte of English Poesie by George Puttenham, edited by Gladys Doidge Willcock and Alice Walker, Cambridge, 1936, S. 61

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

roswitha

"Schreibtafel her! Ich muss mir's niederschreiben, Dass einer lächeln kann, und immer lächeln, Und doch ein Schurke sein..." (Hamlet)

roswitha

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