Die Fantastik der Kultur

Krieg Niroz Malek ist in Aleppo geblieben. Er schreibt Texte über verlorene Freunde, Musik, Literatur und den allgegenwärtigen Tod
Ausgabe 14/2017
Dem Grauen nicht das Feld überlassen
Dem Grauen nicht das Feld überlassen

Foto: Joseph Eid/Getty Images

Niroz Malek ist verrückt. Und nicht nur das, er ist eine tragische Figur; alternder Schriftsteller, nunmehr 70, der sich mitten im Bombenhagel auf die Heimatstadt Aleppo weigert, seine Büchersammlung und seine Schallplatten zu verlassen und lieber mit Hemingway, Puschkin und Beethoven in seinem Zimmer sterben möchte. Das ist nicht nur wahnsinnig stur, sondern auch ziemlich pathetisch und geradezu karikaturesk intellektuell. Anstatt als Flüchtender kein würdiges Leben mehr zu haben, gehe ich lieber in der illustren Gesellschaft europäischer Künstler unter – so lässt sich die erste Miniatur des Bandes Der Spaziergänger von Aleppo vom eben genannten Autor paraphrasieren.

Ist es angebracht, sich als deutsche Leserin, die sich Bombenangriffe und Krieg wirklich nicht vorstellen kann, über diesen erstaunlichen Mangel an Realitätssinn, an Zynismus und Selbstdistanz zu wundern, ja gar zu ärgern? Es lohnt sich, diese Frage für die kommenden knapp 150 Seiten des schlicht gestalteten Paperbacks im Kopf zu behalten.

Der Ich-Erzähler wohnt in Aleppo, der letzte Eintrag datiert vom 11. Dezember 2016, da eroberte das syrische Regime die Stadt gerade mit Bomben zurück, bevor es die überlebenden Bewohner aus dem oppositionellen Teil ins Umland und in Richtung der Stadt Idlib deportierte, die bis heute von verschiedenen Rebellengruppen kontrolliert wird. Niroz Malek postete die Miniaturen aus dem vorliegenden Band zuerst auf Facebook. 2015 veröffentlichte der französische Verlag Le Serpent à Plumes dann einige davon unter dem Titel Le promeneur d’Alep, der Band wurde letztes Jahr mit dem Prix Lorientales ausgezeichnet. Nun erscheint eine aktualisierte Fassung auf Deutsch im Weidle-Verlag, übersetzt von Larissa Bender, die den etwas anachronistischen, manchmal pathetischen Tonfall gut getroffen hat. Es gibt den Ich-Erzähler, der ein nur leicht abgewandeltes Alter Ego des Autors ist. Er berichtet aus seiner Stadt, in der Leben und Tod so austauschbar geworden sind, dass die Verstorbenen weiter herumlaufen und neben den Lebenden ihren alltäglichen Beschäftigungen nachgehen; der Erzähler stirbt selbst mehrmals. Es ist eine Stadt, die zu einem Dschungel aus Trümmern und Militär-Checkpoints geworden ist, in dem das Überleben in unvorhersehbaren Abständen von Schießereien, Bomben und Geschosshagel unterbrochen wird. Die Spielplätze sind jetzt Friedhöfe, und die Menschen zerlegen die Bäume im Park, um sie zum Heizen zu benutzen. Cafébesuche sind nur noch mit einer gehörigen Portion Trotz und Todesmut möglich, denn Scharfschützen lauern überall und die Cafés werden immer weniger.

Schweben über der Stadt

Der Erzähler will dem Grauen nicht das Feld überlassen, weswegen er oft in seine Fantasie flüchtet: Als er mit einem Freund keinen Heimweg ohne Checkpoints findet, beschließen sie, stattdessen einfach über die Stadt zu schweben. Andererseits enden Fantasiereisen oft mit schmerzlichen Einbrüchen der Realität. In einer der stärksten Geschichten erzählt der Protagonist, wie er aus Tonpapier eine Wüste und ein dazu passendes Arsenal an Booten und Waffen bastelt. Seine imaginären Spielkameraden können mit den Booten und Waffen zwar etwas anfangen, haben aber keine Idee, wozu die Wüste gut sein sollte. Sie beschließen daher, Kleider aus der Wüste zu schneidern. Dem Erzähler ist das zuwider, er bleibt deshalb nackt und wird ausgelacht, bis er an eine Küste kommt, wo die Kleider im Meer ertrunkener Kinder angeschwemmt werden.

Eine letzte Ausflucht des Erzählers ist es, in die toten Parks und zerstörten Plätze Szenen von früher zu halluzinieren. Er tut das oft, sucht inmitten der Verrohung und Entmenschlichung nach den Überresten der Würde, die in den Kleinigkeiten der unbeschwerten Vergangenheit liegt. Nur so sind das Beharren auf der Bedeutung von Büchern und Schallplatten, auf den inzwischen lebensgefährlich gewordenen täglichen Gewohnheiten und die Trauer über die abgeholzten Parkbäume zu verstehen: Sie sind ein Aufbäumen gegen das, was der Krieg mit den Menschen macht, eine Weigerung, das Leben gegen das pure Überleben zu tauschen. Niroz Malek ist also nicht verrückt. Er ist nur der Einzige, der in einer verrückten Welt normal geblieben ist.

Info

Der Spaziergänger von Aleppo Niroz Malek Larissa Bender (Übers.), Weidle Verlag 2017, 144 S., 17 €

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden