Es ist eine denkwürdige Veranstaltung im Anatomie-Hörsaal des Berliner Universitätsklinikums Charité, vielleicht noch denkwürdiger als vor zwei Jahren. Die sterblichen Überreste von 21 Menschen, verpackt in weiße, quadratische Schachteln, sind in der Mitte des Anatomie-Hörsaals aufgestellt, darüber ausgebreitet die namibische Flagge. Zwei Grabgestecke aus weißen Rosen und Lilien mahnen, dass es hier nicht um irgendwelche Knochen, sondern um tote Menschen geht.
Die Gebeine wurden zwischen 1898 und 1913 auf verschiedenen Wegen zu rassistischen Forschungszwecken nach Deutschland gebracht. Forscher wollten damit beweisen, dass Afrikaner minderwertig seien. Fünf der Opfer starben zwischen 1904 und 1908, als Deutschland einen Kolonialkrieg im damaligen Deutsch-Südwestafrika führte. Angehörige der Herero, Nama, San, Damara und Ovambo wurden massenhaft vertrieben und ermordet. Nach UN-Konvention ein Völkermord, von Deutschland bisher nicht anerkannt. Die UN-Konvention habe damals nicht gegolten, lautet die Begründung. Was hieße, dass es vor 1948 generell keinen Völkermord gegeben hat.
2008 wurde Namibia durch einen Bericht des ARD-Magazins Fakt auf die Existenz der Gebeine in Berlin aufmerksam. 2010 begann die Charité, die Gebeine zu identifizieren. 2011 schließlich konnten die ersten Schädel nach Namibia zurückkehren.
Eine Staatsangelegenheit?
Die Veranstaltung an diesem Mittwoch hat wenig offiziellen Charakter. Gastgeberin ist die Charité. Die namibische Delegation ist klein, sie passt in eine Bankreihe. Oberhäupter der betroffenen Volksgruppen fehlen völlig, ebenso hochrangige Vertreter der Bundesregierung.
Sie lässt sich durch Egon Kochanke vertreten, den regionalen Leiter für das subsaharische Afrika und die Sahelzone des Auswärtigen Amtes. Höherrangige Regierungsmitglieder sind nicht anwesend. Kochanke sitzt links von einigen Vertretern anderer afrikanischer Staaten am Rand. Der nicht besonders große Hörsaal ist mittelmäßig gefüllt. Es ist eine merkwürdige Kombination, all diese Herren und Damen in Anzug und Kostüm auf bekritzelten Holzbänken.
Bei der Zeremonie 2011 war Namibia mit einer 65-köpfigen Delegation angereist, für die Bundesregierung war hingegen auch nur eine Person anwesend: die damalige Staatsministerin des Auswärtigen Amtes, Cornelia Piper. Die Regierung begründete ihr weitgehendes Fernbleiben mit dem Hinweis, die Gebeine befänden sich im Privatbesitz der Charité, daher handele es sich um keine offizielle politische Veranstaltung. Bei der Übergabe kam es dann zum Eklat. Viele der Anwesenden hatten eine Entschuldigung Deutschlands erwartet. Als sie ihren Unmut äußerten, verstrickte sich Piper in eine unwürdige Diskussion und verließ die Veranstaltung vorzeitig.
Diesmal soll ein Eklat offensichtlich unbedingt vermieden werden. Das Bündnis "Völkermord verjährt nicht!" aus verschiedenen Nichtregierungs-Organisationen berichtete vor der Zeremonie, die namibischen Vertreter der Opfergruppen seien erst eine Woche zuvor über den Übergabetermin informiert worden – womöglich in der Hoffnung, dass nur wenige kommen. Repräsentiert werden sie in Berlin alle vom Vorsitzenden des Rates der Traditionellen Führer, Chief Immanuel Gaseb.
Der deutsche Vertreter der Herero und Nama, Israel Kaunatjike, sagte, er habe erst am Tag der Zeremonie selbst von der Botschaft die Erlaubnis erhalten, teilzunehmen. Die Bündnismitglieder und anderen Organisationen hätten gar keine Akkreditierung erhalten. Ähnliches gilt für einige Medienwie die taz; die Zeitung erfuhr nur zufällig von der Übergabe.
Entschuldigung dringend erwünscht
Da die Vetreter des Bündnisses "Völkermord verjährt nicht!" nicht eingeladen wurden, hatten sie sich mit einem Transparent und weißen Rosen vor dem Gebäude zu einer Mahnwache versammelt. Kurz vor Beginn der Zeremonie wurden sie aber doch in den Hörsaal gebeten. Also sitzen sie in den oberen Reihen, in den Händen Plakate. "Entschuldigung sofort" und "Völkermord verjährt nicht" steht darauf.
Auch die namibischen Staatsvertreter lassen keinen Zweifel daran, was sie wollen: eine offizielle Entschuldigung Deutschlands. Der namibische Minister für Jugend, Sport und Kultur und Delegationsleiter Jerry Ekandjo sagt, dass Deutschland seine kolonialen Kriegstaten endlich als Genozid anerkennen müsse: "Die Vergangenheit zu ignorieren wird nicht dazu führen, dass sie verschwindet." Chief Immanuel Gaseb traut sich als einziger, Reparationszahlungen zu fordern, wenn auch diplomatisch verklausuliert. Beide Redner erhalten Applaus vom Publikum.
Deutschland aber hält sich zurück. Egon Kochanke spricht zwar von "gemeinsamer Verantwortung", meint damit aber offensichtlich nicht die Bundesregierung, sondern die Charité und andere Institutionen, die womöglich noch namibische Gebeine besitzen: "Wir können da nur Mediatoren sein." Er beendet seinen Beitrag ohne Zwischenrufe. Nur die Plakate verkünden stumm ihre Botschaft. Kochanke schaut auf sein Pult. Niemand klatscht.
Die einzige Entschuldigung an diesem Tag kommt von Karl Max Einhäupl, dem Leiter der Charité: persönlich und als Wissenschaftler. Er bittet die Anwesenden um eine Schweigeminute. Als das letzte Rumpeln verklungen ist und alle stehen, ist sie auch schon vorbei.
Die Zeremonie endet mit der feierlichen Unterzeichnung des Übergabeprotokolls, die Unterzeichner machen ernste Gesichter. Die meisten Zuschauer sind aufgestanden.
Angst vor Reparationen
Warum weigert sich Deutschland, die Bedeutung der Kolonialgewalt, der Gebeine und der Geschichte anzuerkennen? Die Bundesregierung sollte doch eigentlich an einem großen Staatsakt interessiert sein, es würde schließlich in das deutsche Selbstverständnis passen: der verantwortungsvolle Umgang mit der eigenen Vergangenheit. Zumal es historische Kontinuitäten gibt: die ersten deutschen Konzentrationslager wurden in Deutsch-Südwestafrika gebaut. Und nicht wenige der Ärzte, die mit namibischen Schädeln forschten, arbeiteten später für die Nazis.
Es drängt sich der Verdacht auf, dass Deutschland die Bedeutung der Ereignisse durchaus nicht unterschätzt. Aber die verantwortlichen Politiker wissen genau, was die echte Anerkennung des Genozids und eine Entschuldigung bedeuten würde: Entschädigungszahlungen. Dann doch lieber Entwicklungshilfe.
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