Das Geistesprodukt in der digitalen Welt

Bücher und ihre Form Literatur. Jeder kann jeden beliebigen Text jederzeit im Internet hochladen. Dennoch gibt es nach wie vor Bücher. Warum ist das so?

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Nehmen wir einmal an, die Buchproduktion und das Internet wären gleichzeitig erfunden worden. Wenn nun jemand ein längeres, verschriftlichtes Geistesprodukt – ich spreche von "Geistesprodukt" und nicht von "Text", um den über den kurzfristigen Alltagsgebrauch hinausge­henden Charakter des betreffenden Werkes anzudeuten – erstellt hätte, böten sich ihm zwei Optionen:

  1. Er könnte das Geistesprodukt an Verlage schicken, die ihm dann Monate später mitteilten würden, ob und unter welchen Umständen sie sich eine Veröffentlichung vorstellen könnten. In einem zweiten Schritt müsste die Vorlage dann überarbeitet werden, um einen Ausgleich zwischen den stär­ker an der textimmanenten Logik ausgerichteten Interessen des Autors und den kommerziellen Interessen des Verlages zu erzielen. Aus Letzteren erge­ben sich u.a. Forderungen wie die nach leichter Lesbarkeit, u.U. der Anpas­sung an ein bestimmtes Format oder einem nicht zu großen Umfang.

Hierauf würden die Erstellung der Druckfahnen, die abermalige Kontrolle des Textes und schließlich die Veröffentlichung folgen. Um die Publikation aber auch wirklich "öffentlich", also allen zugänglich zu machen, müsste sie von umfangreichen Werbemaßnahmen – Anpreisung des Buches in Pros­pekten und Zeitschriften, Besuch von Messen und Buchhandlungen durch Verlagsvertreter, ggf. auch Lesungen durch den Autor – begleitet werden.

  1. Er könnte das Geistesprodukt ins Internet hochladen und andere Nutzer durch die Eingabe entsprechender Schlagwörter bzw. "Tags" sowie die Ver­linkung mit passenden Portalen darauf aufmerksam machen.

Bei einem Vergleich der beiden Optionen fällt auf, dass die erstgenannte durch eine größere Sorgfalt auf dem Weg zum veröffentlichten Produkt gekennzeich­net ist. Diese Sorgfalt geht allerdings mit dem Eindringen textfremder Kriterien in den Veröffentlichungsprozess einher, während bei einer Veröffentlichung im Netz mögliche Änderungsvorschläge der Nutzer jeweils an der Logik des Textes selbst ansetzen würden. Überhaupt würde Option 2 den direkten Kontakt zwi­schen Schreibenden und Lesenden erleichtern, während man bei der ersten Option hierfür stärker auf Vermittler – Verlage, Buchhändler, Organisatoren von Bücherfestivals etc. – angewiesen wäre.

Der zweite große Unterschied zwischen den beiden Optionen betrifft den zeitli­chen Abstand zwischen Erstellung des Geistesprodukts und Veröffentlichung, der bei der ersten Option ungleich größer ist. Dies kann insbesondere bei Publi­kationen, die der Verbreitung neuer Erkenntnisse dienen sollen, ein gewichti­ger Faktor sein. Nicht unerheblich ist schließlich auch der Aspekt des Ressour­cenverbrauchs, der bei Option 1 – durch den Papierverbrauch und den Ener­gieaufwand, der für Herstellung und Transport der fertigen Produkte erforder­lich ist – weit stärker ins Gewicht fällt.

Kaum jemand würde unter diesen Umständen wohl die erstgenannte Option wählen. Wenn bei der Veröffentlichung zumindest längerer verschriftlichter Geistesprodukte die Buchform nach wie vor dominiert, muss dies daher andere Gründe haben. Zu nennen sind hier insbesondere:

  1. die Tradition. In einem Buch sehen wir eben nicht einfach einen Haufen be­druckten Papiers zwischen zwei Deckeln. Vielmehr sind Bücher für uns seit Jahrhunderten so eng mit verschriftlichten Geistesprodukten verbunden, dass wir beide fast schon miteinander gleichsetzen. So haben wir auch die Tendenz, ausschließlich im Netz veröffentlichte Texte lediglich als Vorfor­men von Geistesprodukten anzusehen. Einzig E-Books – die ja teilweise so­gar das raschelnde Geräusch umgeblätterter Buchseiten nachahmen – könnten mit der Zeit als Brücke von der analogen zur digitalen Welt fungie­ren.
  2. die Buchkultur. Rund um das Buch hat sich ein komplexes kulturelles Leben herausgebildet, das weit über die bloße Auseinandersetzung mit den be­treffenden Geistesprodukten hinausgeht. So dienen Bibliotheken nicht nur der Ausleihe von Büchern. Sie sind vielmehr auch Zentren des geistigen Aus­tauschs und der zwischenmenschlichen Begegnung. Auch die zahlreichen Bücherfestivals leben von der konkreten Präsenz der Geistesprodukte, also ihrer Materialisierung in Buchform.
  3. Autoritätsgläubigkeit. Ein Rezensent sucht sich die von ihm zu besprechen­den Werke nicht aus dem Netz heraus. Vielmehr ist er es gewohnt, die von den Verlagen in Buchform gegossenen Geistesprodukte zugeschickt zu be­kommen, nebst den so genannten "Waschzetteln", auf denen er alle nötigen Informationen zu Werk und Autor sowie oft auch weitere Bausteine für die Rezension findet.

Der Rezensent verlässt sich demnach auf die Autorität der Verlage, denen er bei der Vorauswahl jener Werke, die mit der Buchform zu ernst zu nehmen­den Geistesprodukten geadelt werden, vertraut. Die Lesenden wiederum verlassen sich auf die Autorität der Rezensenten, die die veröffentlichten Werke für sie sichten und beurteilen.

Dieses Verfahren hat so lange eine gewisse Berechtigung, wie die Beteiligten sich bei der Beurteilung der betreffenden Werke allein von textimmanenten Kriterien leiten lassen. Fließen jedoch textfremde Kriterien – wie insbeson­dere ökonomische Überlegungen – in die Beurteilung mit ein oder werden diese dabei gar zum dominanten Faktor, so wirkt sich die Autoritätsgläubig­keit im Sinne einer geistigen Einschränkung aus.

Besonders deutlich wird dies an den Literaturverlagen. Früher leisteten diese sich eine Mischkalkulation, bei der leichter verkäufliche Werke die sperrigeren, avantgardistischen Texte querfinanzierten. Die Autorität der Verlage gründete sich folglich darauf, dass sie einen Blick für die literarische Qualität der ihnen vorgelegten Werke hatten, diese der Öffentlichkeit zu­gänglich machten und den Lesenden so die Gelegenheit gaben, sich allmäh­lich mit dem Neuen vertraut zu machen.

Heute dagegen heißen die großen Verlage "Publikumsverlage" und finden ihre Bestimmung dementsprechend darin, den Geschmack des breiten Pub­likums zu treffen – was Innovationen naturgemäß erschwert. Die geistige Autorität, die man Verlagen auch heute noch zubilligt, indem man nur die von ihnen mit der Buchform geehrten Geistesprodukte ernst nimmt, beruht demnach auf einer Praxis, die die Verlage längst nicht mehr anwenden.

  1. wirtschaftliche Interessen. Verlage, Druckereien, Buchhandlungen – der Buchmarkt sichert den Beschäftigten zahlreicher Branchen das Überleben. Ausgerechnet für diejenigen, die den Rohstoff für diesen Markt liefern – die Urheber der Geistesprodukte – gilt dies allerdings nicht. Während man bei den meisten anderen, die in diesem Bereich tätig sind, selbstverständlich davon ausgeht, dass ihr Einkommen ihre Existenz sichern sollte, erwartet man von den Verfassern der Texte – abgesehen von einigen wenigen Best­sellerautoren – ebenso selbstverständlich, dass sie sich mit einem Taschen­geld zufrieden geben und ihren Lebensunterhalt auf andere Weise bestrei­ten.

Konkret gehen von einem verkauften Buch je nach Marktmacht des Einzel­händlers zwischen 25 und 50 % an den Buchhandel, bis zu 20 % an den Zwi­schenhandel – also die Buchgroßhändler (die so genannten "Barsorti­mente") – und lediglich um die 10 % an den Autor. Der hohe Anteil des Han­dels am "Preiskuchen" engt die Spielräume der Verlage, die ja auch zahlrei­che weitere Kosten (für Druck, Werbung, Verlagsmitarbeiter etc.) zu schul­tern haben, zusätzlich ein. Dies verstärkt ihre Neigung, bei der Programmer­stellung kommerzielle Gesichtspunkte in den Vordergrund zu stellen und das Autorenhonorar als lästigen Kostenfaktor zu sehen.

Bei wissenschaftlichen Publikationen ist die Auflage in der Regel so niedrig, dass man als Autor ohnehin nicht von den Einnahmen aus der Veröffentli­chung leben könnte. Zusätzlich wird hier – wenn nicht sogar ein Druckkos­tenzuschuss verlangt wird – meist eine Untergrenze verkaufter Exemplare festgelegt, ab der ein Autor am Gewinn beteiligt wird. Der materielle Nutzen einer Publikation ergibt sich in diesem Fall eher auf indirektem Wege, näm­lich durch das Renommee, das man durch die Veröffentlichung erwerben und bei Stellenbewerbungen nutzen kann.

Bei literarischen Werken lässt sich eine solche sekundäre Honorierungs­quelle allenfalls durch den Gewinn von Preisen erschließen – die aber ebenfalls kein dauerhaftes Auskommen bieten. Während noch zu Beginn der 1980er Jahre ein Autor wie Uwe Johnson von seinem Verleger Siegfried Unseld mit monatlichen Darlehenszahlungen unterstützt und so sein Über­leben als Schriftsteller gesichert wurde – was sich für den Verlag später durchaus als lohnende Investition herausgestellt hat –, muss sich ein Autor heutzutage an den Publikumsgeschmack anpassen, will er sich mit seinem Schreiben eine Existenz als "freier Autor" ermöglichen.

  1. Eitelkeit. Anders als sein digitaler Zwilling, bietet das analoge, materialisierte Geistesprodukt den Vorteil, konkret vorzeigbar zu sein. Dadurch lässt es sich weit eher für eine Selbstdarstellung als "Mann/Frau des Geistes" nutzen als eine Veröffentlichung im Netz. Dies gilt umso mehr, je renommierter der Verlag ist, in dem das Buch erscheint.
  2. Selbstvergewisserung. Ein Buch vermittelt die Illusion von Einheit und Abge­schlossenheit eines geistigen Prozesses. Wer ein eigenes Buch vorlegt, kann von sich behaupten, "Autor" zu sein, also "Schöpfer" eines geistigen Produk­tes. Dagegen zeigt das Internet, wo die Stimmen der anderen immer nur ei­nen Click entfernt sind, den geistigen Prozess als vielstimmiges Konzert, das nie zum Ende kommt und in dem Eigenes und Fremdes ununterscheidbar ineinander fließen.

Das Buch bietet so gegenüber der digitalen Veröffentlichung den Vorteil, dass der Schreibende sich seines eigenen geistigen Prozesses und Entwick­lungsstands vergewissern kann. Analog dazu können die Lesenden sich bei einem Buch eher auf den jeweiligen geistigen Prozess konzentrieren, anstatt ihn in seiner netzartigen Verbindung mit anderen geistigen Prozessen zu se­hen. Für die kognitive Auseinandersetzung mit geistigen Inhalten mag dies von Vorteil sein. Man sollte sich jedoch darüber im Klaren sein, dass es sich bei der von einem Buch vermittelten Illusion der Einheit und Abgeschlos­senheit eines geistigen Prozesses um eine Hilfskonstruktion handelt, die der Wirklichkeit des menschlichen Geistes weit weniger gerecht wird als die in­einander fließenden Stimmen des Internets.

Schaut man sich die Gründe für das Festhalten am Medium Buch noch einmal im Einzelnen an, so lässt sich sagen, dass es sich bei den beiden erstgenannten Aspekten wohl um Übergangsphänomene handelt. Eine 500-jährige Tradition wiegt nun einmal schwerer als die paar Jährchen Schallplattenkultur – und selbst die führt ja noch immer ein kleines, aber feines Nischendasein. Wahr­scheinlich handelt es sich hier um eine Generationenfrage. Sobald genug Men­schen mit E-Book und Tablet aufgewachsen sind, wird auch das gedruckte Buch allmählich in ein Nischendasein übergehen.

Damit wird sich auch die Buchkultur, wie wir sie heute kennen, grundlegend verändern. An die Stelle von Bibliotheken werden vielleicht eher wieder Lese- und Diskussionszirkel treten, wie man sie aus der Anfangszeit des modernen Bibliothekswesens kennt – denn für E-Books benötigt man nun einmal keinen zentralen, materiellen Ort, um sie herunterzuladen. Dieser Wandel muss je­doch nicht notwendigerweise mit einem Kulturverlust einhergehen. Vielmehr könnte die Verlagerung des Schwerpunkts für die Zusammenkünfte von der Ausleihe der Bücher zum Austausch über die Inhalte der Geistesprodukte die Diskurskultur in einer gerade für eine demokratische Gesellschaft durchaus wünschenswerten Weise fördern.

Eine solche Diskurskultur könnte zugleich das Vertrauen in die eigene Urteilsfä­higkeit stärken und so die Autoritätsgläubigkeit, die heute Auswahl und Bewer­tung der Lektüre lenkt, überwinden helfen. Nicht auszuschließen ist allerdings, dass sich auch in den neuen Diskussionsgruppen wieder Meinungsführer her­ausbilden, an denen sich die Urteile der anderen orientieren. Schließlich ist Au­toritätsgläubigkeit kein spezifisches Problem des Buchmarkts oder der Buchkul­tur. Es handelt sich hierbei vielmehr um ein grundlegendes Dilemma des Pro­jekts der Aufklärung: Nicht jeder möchte eben, wie es diese vorsieht, seiner "selbst verschuldeten Unmündigkeit" entkommen. Manch einer hat sich darin recht bequem eingerichtet, und manch anderer nutzt diese Bequemlichkeit auch ganz gerne aus, um einfache, seinem eigenen Machtwillen dienliche Wahrheiten im Volk zu verbreiten.

Die stärksten Beharrungskräfte auf dem Weg von einer analogen zu einer digi­talen Wiedergabe verschriftlichter Geistesprodukte werden aber wohl die wirt­schaftlichen Interessen entfalten, die am Medium Buch hängen. Diejenigen, deren finanzielles Überleben davon abhängt, dass wir auch weiterhin das ver­schriftlichte Geistesprodukt mit dem gedruckten Buch identifizieren, werden alles dafür tun, dass dies auch so bleibt.

Auf dem Gebiet der Wissenschaften führt dies dazu, dass die neuen Möglich­keiten des geistigen Austauschs, die das Internet bietet, nur eingeschränkt ge­nutzt werden. Problemlos ließen sich Portale einrichten, auf denen – wie es hier und da ja auch heute schon geschieht – nicht nur Artikel, sondern auch längere Schriften hochgeladen werden könnten. Die Qualitätskontrolle könnte dabei – wie heute auch – durch eine Peer Review, also die Begutachtung durch Fachkollegen, aber auch durch Kommentare der Nutzer erfolgen – was den Prozesscharakter geistiger Arbeit unterstreichen würde. Auch nachträgliche Korrekturen wären so leichter zu bewerkstelligen.

Da mit wissenschaftlichen Publikationen schon heute kaum Geld zu verdienen ist, würden die Autoren durch die neue Veröffentlichungskultur kaum finanzi­elle Einbußen erleiden. Das Renommee würde sich dann nicht mehr aus der Veröffentlichung in bestimmten Verlagen, sondern aus dem Hochladen von Schriften auf bestimmten Portalen ergeben. Vor allem aber gäbe es keine fi­nanziellen Schranken mehr, die einer Verbreitung des Werkes außerhalb einer eng umrissenen "scientific community" im Weg stünden.

Auf dem Gebiet der Literatur stellt sich die Situation etwas komplizierter dar. Zwar enthält die Aussicht, Werke an der verkaufsorientierten Kontrollinstanz der Verlage vorbei veröffentlichen zu können, auch hier ein befreiendes Poten­zial. Diese Möglichkeit besteht – über "Books-on-demand" und E-Books – je­doch auch heute schon, ohne dass dies an der Monopolstellung der großen Publikumsverlage etwas geändert hätte. Der Grund hierfür ist offenbar, dass angesichts der schieren Masse literarischer Veröffentlichungen die Definiti­onsmacht derer, denen der Großteil der Lesenden vertraut, ungebrochen bleibt.

Bei wissenschaftlichen Veröffentlichungen würde sich dieses Problem zumin­dest abschwächen, sobald sich die Publikationstätigkeit vollständig ins Netz verlagert hätte. Zwar wäre auch dann davon auszugehen, dass die Veröffentli­chung in bestimmten Portalen vertrauenswürdiger erschiene als etwa das Hochladen von Texten auf einem eigenen Blog. Da jedoch die Menge von Ver­öffentlichungen zu bestimmten wissenschaftlichen Themen im Vergleich zu li­terarischen Publikationen grundsätzlich überschaubar und durch die Möglich­keit der Stichwortsuche besser strukturierbar ist, könnten Schriften auch ohne das Gütesiegel der neuen Netz-Autoritäten ihren Weg in die Öffentlichkeit fin­den. Abweichende Meinungen und neue Forschungsparadigmen könnten so bei weitem nicht so effektiv unterdrückt werden wie literarische Schreibwei­sen, die als nicht markt- und massentauglich eingestuft werden.

Längst wird ja auch der literarische E-Book-Markt von einem dichten Rezensen­tennetz umspannt. Gleichzeitig geben immer mehr Publikumsverlage gedruckte Bücher gleichzeitig als E-Books heraus. Sie schaffen sich so ein zweites wirt­schaftliches Standbein und festigen damit zugleich ihre Definitionshoheit über das, was als Literatur zu gelten hat. Die neue geistige Freiheit, die sich aus der Möglichkeit zum freien Hochladen von Texten im Netz ergibt, droht dadurch im Keim erstickt zu werden.

Außer der schlechten Auffindbarkeit ergeben sich für Autoren literarischer Texte bei einer Veröffentlichung im Netz jedoch noch weitere Probleme. So würde sich auf diese Weise die finanzielle Existenz wohl noch schlechter si­chern lassen als bei einer analogen Publikation. Dies liegt zunächst an der Um­sonst-Kultur des Netzes, die bei einem verlagsunabhängigen Hochladen von Texten wohl kein kostenpflichtiges Angebot akzeptieren würde. In einem kapi­talistischen Umfeld könnte allerdings auch ein kostenfreies Angebot dem Autor zum Verhängnis werden. Denn in einer Geldwirtschaft bemisst sich der Wert eines Produkts eben nicht an seiner faktischen Qualität, sondern daran, was andere dafür zu zahlen bereit sind.

Vielen mag vor diesem Hintergrund die E-Book-Publikation als goldener Mit­telweg erscheinen. In der Tat wird einem Autor hier ein deutlich höherer Anteil am Gewinn (bis zu 70 %) zugestanden als bei einem gedruckten Buch – aller­dings nur, sofern er das Werk ohne Verlag und damit auch ohne die diesem zur Verfügung stehenden Werbemöglichkeiten publiziert. In absoluten Zahlen ist der Gewinn jedoch – angesichts der zumeist niedrigeren Preise – auch nicht gerade üppig. Außerdem besteht die Gefahr, dass bei einer zunehmenden Kon­zentration auf dem E-Book-Markt der Druck auf die Autoren langfristig zu­nimmt und ihre Gewinnbeteiligung sinkt.

Ein weiteres Problem, das sich hemmend auf die Veröffentlichung literarischer Texte im Netz auswirkt, ist der oben genannte Eindruck der Einheit und Abge­schlossenheit, der bei einer Publikation in Buchform eher erzeugt werden kann. Dieser Eindruck scheint bei literarischen Texten bedeutsamer zu sein als bei wissenschaftlichen Texten. Zwar bauen auch literarische Texte immer auf ande­ren Texten auf und stehen in einem mehr oder weniger deutlichen "intertextu­ellen" Zusammenhang mit diesen. Anders als ein wissenschaftliches Werk, das von der aktiven Auseinandersetzung mit anderen Forschungsarbeiten und früheren Erkenntnissen lebt, konstituiert sich ein literarischer Text jedoch stets als abgeschlossener geistiger Kosmos. Dies gilt erst recht für Romane, in die die Lesenden eintauchen wie in eine eigene, vom Autor erschaffene Welt.

Rein theoretisch handelt es sich hierbei um ein technisches Problem, das die Nutzer durch ein Herunterladen des literarischen Textes im E-Book-Format oder durch ein Ausdrucken und eventuell auch entsprechendes Abheften oder Binden der Seiten leicht beheben könnten. Dem steht jedoch die weit verbrei­tete Konfundierung von Veröffentlichungsort und Schreibweise entgegen. Was im Netz veröffentlicht wird, gilt als "Netzliteratur" – die mit einer spontaneis­tisch-lockeren Schreibweise assoziiert wird. Man stellt sich vor, dass jemand, der im Netz veröffentlicht, auch im Netz schreibt, als würde er ständig vor einer Webcam sitzen. Dass man literarische Texte auf klassische Weise verfasst – am Ende sogar, fast schon druidenhaft, von Hand – und sie erst nach einem länge­ren Prozess des Prüfens und Korrigierens ins Netz stellt, dieses also lediglich als Veröffentlichungsmedium nutzt, ist nicht vorgesehen. Ein Netz-Autor ist ein Blogger, nur ein Buch-Autor kann ein Literat sein.

Hinzu kommt, dass die Struktur des neuen Mediums nicht ohne Auswirkungen zu sein scheint auf die Art der in ihm veröffentlichten Texte. Dies zeigen gerade jene Portale, die sich auf die Verbreitung belletristischer Werke spezialisiert haben. So hat etwa bei der von dem Düsseldorfer Startup "Readfy" angebote­nen Lese-App die Anpassung an die Umsonst-Kultur des Netzes zur Folge, dass das kostenlose Herunterladen von E-Books mit dem Einblenden von Werbung erkauft wird. Der emanzipatorische Anspruch von Kunst und Literatur wird so dem Gewinnstreben der kapitalistischen Ökonomie untergeordnet. Die Ausei­nandersetzung mit Krankheit und Tod führt dann etwa nicht mehr zu Reflexio­nen über die Endlichkeit des Daseins oder zu mehr Mitgefühl mit anderen, son­dern zum Abschluss einer privaten Krankenversicherung oder zum Kauf von Vitaminpräparaten, die ewiges Leben verheißen.

Symptomatisch für den impliziten Literaturbegriff des Netzes sind auch die "Distributeurs d'histoires courtes" (Kurzgeschichtenautomaten), mit denen das französische Portal Short Édition kürzlich Furore gemacht hat. Die Automaten spucken Texte aus, die in ihrer Länge dem Bedürfnis der Lesenden nach einem Ersticken der Langeweile – etwa im Wartezimmer von Ärzten oder Behörden – entsprechen, jedoch auf eine Lesezeit von maximal fünf Minuten ausgelegt sind. Die verminderte Konzentrationsfähigkeit und -bereitschaft beim Lesen belletristischer Texte im Netz – das Short Édition als Plattform für den Aus­tausch selbst verfasster Werke ebenfalls ermöglicht – wird hier offenbar auf die analoge Präsentation von Literatur übertragen. Die Texte haben sich an die Guck- und Wisch-Mentalität der Smartphone-Nutzer anzupassen und dürfen demzufolge nicht komplexer sein als der Kassenzettel im Supermarkt, den man nach dem Einkauf noch einmal kurz auf seine Richtigkeit überprüft. Gefragt sind Ablenkung, Zerstreuung und Unterhaltung, nicht aber das Sich-Einlassen auf die fremde Welt der Kunst.

So befindet sich die Literatur heute zwischen der Skylla eines von kommerziel­len Interessen durchsetzten analogen Buchmarkts und der Charybdis einer der Komplexität literarischer Texte strukturell widersprechenden digitalen Welt. Ob dies die Literatur bloß verändern oder in ihrem Kern zerstören wird, lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht absehen. Es ist durchaus denkbar, dass man sich in 100 Jahren nur noch aus historischen Gründen mit ihr – als einer vergangenen, nicht mehr zeitgemäßen Ausdrucksform des menschlichen Geistes – beschäftigen wird. Vorstellbar ist aber auch, dass die Literatur in sich genügend Widerstandspotenzial besitzt, um sich gegen die vereinnahmenden Kräfte von Markt und Netz gleichermaßen zu behaupten – dass sie also gewis­sermaßen als ihr eigenes Medium überdauern wird, dessen Fortbestand sich aus dem Bedürfnis speist, die Welt anders zu sehen, als sie durch die Brille ihrer Leitmedien und ökonomischen Strukturen erscheint.

Um das Thema nicht nur theoretisch abzuhandeln, beschließe ich meine Über­legungen mit der Einladung zu einem persönlichen Experiment. Auf LiteraturPlanet online stelle ich einen literarischen Text bereit, der als klassisches Buch, aber auch als E-Book sowie im pdf-Format verfügbar ist. So kann jeder selbst für sich überprüfen, welche Art der Lektüre er für die geeignetste hält bzw. welcher Lektüreart er am ehesten zuneigt, wenn er frei auswählen kann.

Als Kompromiss zwischen der Umsonst-Kultur des Netzes und der Kommerziali­sierung der Buchkultur in der kapitalistischen Ökonomie schlage ich bei einer Nutzung der Angebote eine Spende an die Médecins du Monde (Ärzte der Welt) vor.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Rotherbaron

Autor, Blogger. Themen: Politik, Gesellschaft, Natur und Umwelt, Literatur, Kultur. Seiten: rotherbaron.com; literaturplanetonline.com

Rotherbaron

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