Das Recht des Stärkeren

Katalonien Der Umgang mit den katalanischen Unabhängigkeitsbestrebungen ist ein weiterer Beleg für die zunehmenden totalitären Tendenzen in Europa.

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Plötzlich gibt es wieder politisch Verfolgte und politische Prozesse – mitten in der EU
Plötzlich gibt es wieder politisch Verfolgte und politische Prozesse – mitten in der EU

Foto: Sandra Montanez/Getty Images

Ich weiß nicht, was mich mehr erschreckt: die Unerbittlichkeit, mit der die spanische Zentralregierung jeden Gedanken an eine katalanische Eigenständigkeit zu ersticken versucht, oder die gleichgültige bis affirmative Haltung, mit der der bürgerliche Mainstream die Aktionen von spanischer Politik und Justiz begleitet. Reicht es der spanischen Zentralgewalt denn nicht, die Katalanen durch die Aussetzung des Autonomiestatuts und die Unterstellung der katalanischen Behörden unter ihre Kontrolle zu demütigen? Muss sie auch noch die Protagonisten der Unabhängigkeitsbewegung vor Gericht stellen und ins Gefängnis bringen?

Plötzlich haben wir, mitten in der EU, in einem ihrer zentralen Staaten, politisch Verfolgte und politische Prozesse. Man würde einen Aufschrei erwarten, eine intensive Ursachenforschung, eine selbstkritische Infragestellung des demokratischen Selbstverständnisses der Mitgliedsstaaten. Stattdessen überwiegen: Zustimmung für die spanische Regierung, Häme über den Auftritt des katalanischen Regionalpräsidenten Carles Puigdemont in Brüssel und Schuldzuweisungen an die Katalanen, die in die nationalistische Ecke gestellt werden. Sollen sie sich nur nicht beschweren, was müssen sie auch die Verfassung brechen? Im Übrigen: Was geht's uns an, das Ganze ist doch eine innerspanische Angelegenheit.

Angesichts der vorherrschenden Argumentationsmuster erscheint es mir notwendig, zunächst einmal zwischen Nationalismus, Separatismus und Unabhängigkeitsbestrebungen zu differenzieren. Idealtypisch lassen sie sich folgendermaßen voneinander abgrenzen: 1. Nationalismus ist eine Haltung, bei der die eigene Nation in quasi-religiöser Weise glorifiziert wird. Ein Nationalist hat eine ideale Vorstellung des eigenen Volkes, die er leidenschaftlich gegen jede "Verunreinigung" durch fremde Elemente verteidigt. Nationalismus kann zwar auch bei Völkern ohne eigenes Staatsgebiet auftreten, ist jedoch häufiger bei staatengebundenen Völkern anzutreffen, die sich an der vermeintlichen Größe und Überlegenheit des eigenen Staates berauschen. 2. Separatismus bezeichnet den Wunsch, einen Teil eines Staatsgebietes von diesem abzutrennen. Das Ziel ist entweder die Unabhängigkeit des Teilgebiets oder der Anschluss an ein anderes Staatengebilde. Separatismus kann, muss aber nicht mit Nationalismus einhergehen. So fußen die separatistischen Tendenzen in Norditalien auf rein monetären Erwägungen. 3. Unabhängigkeitsbestrebungen beziehen sich auf die Bemühungen eines Volkes, sich aus dem von einem anderen Volk dominierten Staat zu lösen und selbst über die eigenen Geschicke zu bestimmen. Zu unterscheiden ist dabei zwischen Unabhängigkeitsbestrebungen von Völkern, deren Sprache und Kultur bereits in anderen Staaten prägend sind (wie den Kosovaren oder den Flamen), und Unabhängigkeitsbestrebungen von Völkern, die über keinerlei Eigenstaatlichkeit verfügen (wie den Kurden und den Katalanen – den Sonderfall des katalanisch geprägten Zwergstaats Andorra lasse ich dabei außer Acht, zumal die Staatsoberhäupter hier ein spanischer Bischof und der französische Staatspräsident sind).

Die Verfechter einer katalanischen Unabhängigkeit sind Separatisten – Nationalisten aber sind sie nicht. Ihr Wunsch, sich von Spanien zu lösen, beruht vielmehr gerade auf der Abneigung gegenüber dem spanischen Nationalismus, der es den Katalanen verwehrt, sich als eigene Nation zu bezeichnen. Er ist eine Reaktion auf jahrzehntelange Bevormundungen und Demütigungen durch die kastilische Hegemonialkultur, die unter Franco im Verbot der katalanischen Sprache und Kultur gipfelten und erst vor Kurzem – im höchstrichterlichen Zurechtstutzen des von katalanischer Bevölkerung und spanischem Parlament mit großer Mehrheit beschlossenen erweiterten Autonomiestatuts – wieder aufgelebt sind. Mit ihrer aggressiven, sich jedem Dialog und Kompromiss verweigernden Haltung nährt die spanische Zentralregierung die katalanischen Ängste und Vorbehalte und rührt an das Trauma der gewaltsamen Unterwerfung der Volksfront unter Franco. Diese hieß in Katalonien "Linksfront" – und noch heute gehört die Linkspartei CUP (Candidatura d'Unitat Popular) zu den entschiedensten Befürwortern einer katalanischen Unabhängigkeit. Es geht hier also eher um Internationalismus als um Nationalismus, das Ziel ist eine weltoffene Republik statt einer noch immer vom franquistischen Erbe eingetrübten Monarchie. Vor diesem Hintergrund ist es nicht zielführend, auf den verfassungswidrigen Charakter des katalanischen Referendums hinzuweisen. Mit dieser legalistischen Argumentation hätte sich niemals in der Geschichte ein Volk aus einem Staat lösen können.

Am Kern des Problems führt es auch vorbei, wenn man das Recht der Unabhängigkeitsbefürworter bestreitet, mit einer Mehrheit von knapp über 50 Prozent der Wahlberechtigten ihre Ziele umzusetzen. Nach der jahrhundertelangen Zurückdrängung des Katalanischen und der Ansiedlung von Nicht-Katalanen in der Region ist diese Zustimmungsrate in Wahrheit erstaunlich hoch. Glaubt man etwa, die baltischen Staaten hätten 1990/1991 die Unabhängigkeit erlangt, wenn die Referenden mit der sowjetischen Zentralregierung abgestimmt und im gesamten Staatsgebiet der damaligen Sowjetunion abgehalten worden wären? Warum hat man seinerzeit die fraglos nicht verfassungskonformen Unabhängigkeitserklärungen dennoch akzeptiert? Wird hier etwa mit zweierlei Maß gemessen? Gut, die Zeitenwende im ehemaligen Ostblock war eine besondere Situation. Dennoch bleibt der Eindruck, dass einigen Völkern selbstverständlich zugestanden wird, was anderen mit ebenso großer Selbstverständlichkeit verwehrt wird.

Ich frage mich, wie wir in Deutschland reagieren würden, wenn man unsere Kultur auf ein bisschen Brüder-Grimm-Romantik und Goethe-Selbstgefälligkeit reduzieren, ansonsten aber sogar die Pflege unserer Sprache unter den Vorbehalt stellen würde, dass wir die Hegemonie einer anderen Nation, als deren Teil wir uns zu verstehen hätten, vorbehaltlos anerkennen. Wenn man sich die deutsche Geschichte anschaut, ist kaum zu erwarten, dass wir entsprechende Machtdemonstrationen der Hegemonialkultur so friedfertig hinnehmen würden, wie das jetzt in Katalonien der Fall ist. Der eingeforderte Respekt vor der verfassungsmäßigen Ordnung bedeutet demnach, dass an dem Status der Sieger im großen Hauen und Stechen der europäischen Geschichte nicht gerüttelt werden darf. Wer sich damals andere Völker unterworfen hat, soll diese Beute behalten dürfen. Wer dagegen die Anerkennung als Nation und die Verwirklichung der eigenen Identität in einem entsprechenden Staatswesen einfordert, wird als Ewiggestriger verspottet, der die Entwicklung hin zu transnationalen Strukturen verschlafen hat.

Dabei folgt allerdings die Verteidigung der alten nationalstaatlichen Strukturen derselben nationalistischen Logik, die man den zwangsweise dem eigenen Nationalstaat einverleibten Völkern vorwirft. Damit lässt sich aber auch nicht sagen, dass es sich bei dem Konflikt um Katalonien um eine rein innerspanische Angelegenheit handelt. Er wirft vielmehr auch ein recht düsteres Licht auf die Verfasstheit der Europäischen Union. Immerhin soll die Europäische Union der Idee nach ja eine Weiterentwicklung der einstigen Europäischen Gemeinschaft sein. Eine Staatengemeinschaft aber folgt im Kern denselben Gesetzen wie eine Gemeinschaft einzelner Menschen. Echte Gemeinschaft entsteht nur dort, wo sie sich organisch aus dem Dialog und Austausch sich frei entfaltender Individuen entwickelt. Geht man den umgekehrten Weg und setzt eine abstrakte Norm, an die sich die Individuen anzupassen haben, so wird aus Gemeinschaft Totalitarismus. Eine solche abstrakte Norm aber ist der Nationalstaatsgedanke. Er ist nicht nur ein Konzept der Vergangenheit, sondern auch in sich unstimmig, da er auf dem Gedanken der Hegemonialkultur basiert, also in einem heterogenen Staatswesen jenen Völkern die nationale Führungsrolle zuschlägt, die sich andere Völker unterworfen haben.

Vor allem aber entspricht der Nationalstaatsgedanke nicht mehr der Vision eines modernen Europas. Dieses lässt sich nicht auf den Staatsformen von vorgestern aufbauen. Wenn irgendwann die Vision der Vereinigten Staaten von Europa Wirklichkeit werden soll, müssen aus den Nationalstaaten wieder Regionen werden, die sich frei miteinander assoziieren. Ein freies Europa verdient diesen Namen nur dann, wenn darin auch die Verlierer auf den Schlachtfeldern der Vergangenheit – die Katalanen, die Basken, die Bretonen, die Schotten … – ihre Kultur frei ausleben und auf dieser Basis den Austausch mit anderen Völkern pflegen können. Ansonsten verteidigen wir schlicht und ergreifend das Recht des Stärkeren.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Rotherbaron

Autor, Blogger. Themen: Politik, Gesellschaft, Natur und Umwelt, Literatur, Kultur. Seiten: rotherbaron.com; literaturplanetonline.com

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