Von der Lust am Experimentieren

Estland Mit ihrer ungezwungenen Verbindung von Tradition und Moderne bietet die estnische Musikszene spannende Klangerlebnisse

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Von der Lust am Experimentieren

Foto: Raigo Pajula/AFP/Getty Images

Estland: Kleines Land, große Innovationslust

Im Zusammenhang mit den katalanischen Unabhängigkeitsbestrebungen ist in letzter Zeit immer wieder die Frage laut geworden, wozu eine so kleine Region wie Katalonien denn un­abhängig werden solle. Sind solche Bestrebungen angesichts des zunehmenden Zusammen­wachsens der Welt nicht obsolet? Und wäre Katalonien allein denn überhaupt überlebens­fähig?

Als Antwort kann man hier auf Estland, Lettland und Litauen verweisen. Deren Beispiel zeigt zunächst, dass die Fragen falsch gestellt sind. Denn alle drei Länder haben sich nach der Un­abhängigkeit zunächst darum bemüht, Teil einer größeren Staatenfamilie zu werden. Natür­lich geschah dies auch aus Selbstschutzgründen – man wollte sich nach den langen Jahren der Okkupation dem russischen Machtbereich endgültig entziehen. Daneben ging es den neu gegründeten Staaten jedoch auch darum, ihren Teil zur Weiterentwicklung der europäischen und globalen Strukturen beizutragen.

Gerade Estland hat sich dabei zu einer Art Labor für die Erprobung neuer Formen der Orga­nisation des Staatswesens entwickelt. Dies betrifft insbesondere den Bereich des e-gover­nance, in dem Estland eine weltweit führende Rolle einnimmt. Administrative Formalitäten kann man dort zu einem großen Teil online erledigen (für die Steuererklärung gilt das schon seit dem Jahr 2000), auch gewählt werden kann via Internet. Hinzu kommt ein radikal ver­einfachtes Steuersystem, das auf das in Deutschland übliche Labyrinth an Sonder- und Aus­nahmeregeln verzichtet. Die Kehrseite dieser Entwicklung ist ein weitgehend gläserner Bür­ger, dessen finanzielle Transaktionen für den Staat ein offenes Buch sind.

Eine vollständige Anpassung an die estnischen Verwaltungsgepflogenheiten wäre in Deutschland kaum denkbar – und angesichts der Nachteile, die diese mit sich bringen, wohl auch nicht wünschenswert. Dennoch sind die Erfahrungen, die man in Estland mit den radi­kal neuen Formen staatlicher Verwaltung macht, für andere Länder eine wertvolle Orientie­rungshilfe. Was in kleinen, zumal neu gegründeten Staaten möglich ist, mag in älteren Ge­meinwesen mit eigenen Verwaltungstraditionen so nicht umsetzbar sein. Die Vorreiterrolle der unbekümmerten Jungstaaten kann jedoch auch älteren Staaten Mut machen, festgefah­rene Wege zu verlassen und wenigstens in Ansätzen etwas Neues auszuprobieren. So haben die guten Erfahrungen, die Estland mit der Umstellung auf eine rein elektronische Steuerer­klärung gemacht hat, sicher auch in Deutschland den allmählichen Umstieg hierauf erleich­tert.

Das Beispiel Estlands zeigt damit, dass die Entlassung kleinerer Völker in die Unabhängigkeit weder zwangsläufig in den Staatsbankrott führen noch mit überbordendem Nationalismus einhergehen muss. Die Unabhängigkeit kann vielmehr ein Katalysator für die Entwicklung neuer Visionen der staatlichen Verfasstheit sein, von denen am Ende auch andere Staaten profitieren. Gleichzeitig kann der Schwung der Unabhängigkeit auch in der Wirtschaftspolitik dazu führen, dass ein junger Staat Wege beschreitet, die seine Autarkie sichern. Dazu gehört freilich auch die Einbindung in größere, transnationale Staatenverbünde.

Wenn, wie im Falle Kataloniens, die Unabhängigkeitsbestrebungen unter Verweis auf einen obsoleten Nationalismus zurückgewiesen werden, so beruht dies daher auf einer Art Projek­tionseffekt: Eben jener Nationalismus, der die Hegemonialmacht – in diesem Fall Spanien – davon abhält, einem Volk seine Unabhängigkeit zuzugestehen, wird jenen unterstellt, die für diese Unabhängigkeit eintreten. Das Beispiel Estlands zeigt jedoch, dass das Streben nach nationaler Selbstbestimmung keineswegs mit Nationalismus gleichgesetzt werden kann. Ein Volk, das selbst über seine Geschicke bestimmen möchte, stellt deshalb noch lange nicht – wie es für den Nationalismus charakteristisch ist – die eigene Nation über andere. Es fordert für sich selbst lediglich das ein, was für den einzelnen Menschen das Recht auf individuelle Entfaltung ist – mithin etwas, das so selbstverständlich ist, dass man es eigentlich als Grund­recht anerkennen müsste.

Es mag Völker geben, die sich damit zufrieden geben, ihre kulturelle Identität unter dem Schirm eines nicht oder nicht allein von ihnen getragenen Staates zu entwickeln; Völker, die in einer Art Symbiose mit einem anderen, größeren Volk zusammenleben und nicht den Ehr­geiz haben, als eigenständiger Akteur auf der weltgeschichtlichen Bühne in Erscheinung zu treten. Wenn ein Volk jedoch den Anspruch erhebt, selbst über seine Geschicke zu bestim­men, sollte man ihm dies nicht verwehren. In der Tat ist ja für viele Völker die Unabhängig­keit gleichbedeutend mit dem (Wieder-)Eintritt in die Geschichte. Dies lässt sich gerade an Estland, Lettland und Litauen gut beobachten. Die Rolle, die sie in internationalen Organisa­tionen spielen – etwa, wenn sie turnusmäßig die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen –, aber auch ihre je eigenen Erfolge als Sportnationen haben ihnen zu internationaler Anerken­nung verholfen und machen sie heute zu selbstverständlichen Mitgliedern der Staatenfami­lie.

Der "Eigen-Sinn" der estnischen Musikszene

Die spezielle Dynamik der estnischen Gesellschaft ergibt sich somit aus einem nationalen Selbstverständnis, das nicht auf Abschottung gegenüber anderen, sondern im Gegenteil auf einer besonders weltoffenen Haltung beruht. Diese bewirkt, dass man modernen Entwick­lungen und Einflüssen anderer Kulturen vorbehaltlos begegnet und sie ggf. mit den Beson­derheiten der eigenen Kultur verknüpft.

Eine solche harmonische Zusammenführung von Altem und Neuem, Eigenem und Fremdem lässt sich auch in der estnischen Musikszene beobachten. Ein Beispiel hierfür ist u.a. Mari Kalkun. Die Sän­gerin greift für ihre Lieder zwar auf traditionelle estnische Gesangsformen und Musikinstru­mente – wie etwa die Kannel (finnisch auch 'Kantele'), eine Kastenzither, die ohne Griffbrett gespielt wird – zurück. Dabei führt sie die Tradition jedoch nicht epigonal fort, sondern inte­griert diese in ihre eigenen musikalischen Ausdrucksformen. Immer wieder geht es ihr dabei darum, naturhafte Klänge und Musik miteinander zu verbinden. Auch hierin knüpft sie an die musikalische Tradition ihres Heimatlandes an, entwickelt diese jedoch zugleich weiter. Denn Kalkuns Naturverbundenheit wurzelt erkennbar in dem Gefühl der zunehmenden Bedrohung der Natur, deren Zeugin sie auf ihren ausgedehnten Reisen durch verschiedene Gegenden der Welt geworden ist.

Auch das Trio Trad.Attack!, dessen erster, 2014 veröffentlichter Extended Player in Estland auf Anhieb ein großer Erfolg wurde, bezieht sich musikalisch vielfach auf klassische estnische Instrumente und Vortragsweisen. Die drei Bandmitglieder sind hiervon auf je eigene Weise geprägt worden: Tõnu Tubli, Posaunist und Schlagzeuger, ist Sohn eines Dirigenten estni­scher Blasorchester, Sandra Sillamaa spielt den estnischen Dudelsack, und Jalmar Vabarna gehört zur Minderheit der im Süden Estlands lebenden Setukesen, die über eine besondere Gesangstradition verfügen.

Die Band versteckt ihre Prägung durch die estnische Folk-Tradition keineswegs, verbindet diese aber mit experimentellen Ansätzen, die sich auch auf ihre Videoclips übertragen. So handelt es sich etwa bei dem Liedtext zu Kuukene ('Mond') um eine Art Zauberspruch oder Gebet an den Mond bzw. den Morgenstern. Der wie ein Mantra gesungene Text, den die Band einer alten Aufnahme einer traditionellen estnischen Dorfsängerin entnommen hat, entfaltet seinen Sinn allerdings vollständig erst durch die surrealen Bilderwelten des Videos. Die Begegnung zwischen Mann und Frau, ihre schwebende Annäherung aneinander, wird dabei zu einer Art Chiffre für das Mit- und Gegeneinander der Elemente, das das kosmische Geschehen in Gang hält.

Bei der 2002 gegründeten Band Sõpruse Puiestee ('Boulevard der Freundschaft') – der Name leitet sich von einer Straße in der estnischen Stadt Tartu ab – sind ebenfalls vereinzelt An­klänge an traditionelle estnische Instrumente zu erkennen. Entscheidend ist hier aber eine andere Form der Synthese: Die Band versucht, eingängige Elektro-Klänge mit teilweise kom­plexeren Texten zu verknüpfen, die zum Nachdenken anregen. So ist etwa der Song Kaotaja ('Verlierer') musikalisch recht leicht zu "konsumieren". Der Text aber entfaltet die ganze das menschliche Dasein prägende Dialektik von Selbstfindung und Selbstverlust, Aufbruch und Ankunft, Unterwegssein und Innehalten, Fremdheit und Nähe, Scheitern und Erfüllung, Er­kenntnis und Verwirrung, Hoffnung und Resignation.

So lässt sich von der estnischen Musikszene sagen, was auch für die estnische Gesellschaft insgesamt gilt: Mit ihrer Offenheit gegenüber neuen Einflüssen, der ungezwungenen Verbin­dung von Tradition und Moderne, bietet sie anderen Kulturen vielfältige Anregungen. Was speziell den Bereich der Musik anbelangt, so findet sich in Estland ein Beleg dafür, dass man sich nicht in die Nische einer elitären Subkultur zurückziehen muss, um sich den uniformie­renden Tendenzen der Pop-Industrie zu widersetzen.

Links zu Estland

Allgemein zu den "baltischen Ländern":

Bundeszentrale für politische Bildung: Estland, Lettland, Litauen (Aus Politik und Zeitge­schichte 8/2017: Schwerpunktheft zu den baltischen Ländern).

Planet Wissen: Baltische Staaten [Sammlung von Artikeln und Videos zu verschiedenen The­menbereichen]

Estland:

Estland-inside: Estnische Sprache. [Ausführliche Einführung in neun Kapiteln; Unterseite ei­nes Blogs, auf dem sich auch weitere interessante Informationen über Estland finden; letzte Aktualisierung allerdings Dezember 2008]

Laender-lexikon.de: Estland. [Informationen u.a. zu Geographie, Kultur, politischem System Estlands; estnische Geschichte als eigener Punkt]

Wiezer, Silvi: Estland und seine Sprache[n]; [kurzer Überblick].

E-governance / Wirtschafts- und Steuerpolitik in Estland:

Buba, Alexandra: Steuern in Estland: voll digital. STB Web, Portal für Steuerberater, 23. Novem­ber 2016.

Estnische Industrie- und Handelskammer: Steuersystem und Steuerverwaltung [in Estland]; dort auch ein kurzer Überblick zu estnischer Geschichte, Geographie und Kultur;

Kompatscher, Stefanie: Estland: Ein Staat auf Dauerdiät. Die Presse, 11. Juni 2016.

Welscher, Alexander: Steuererklärung in Estland: Ein Blick, ein Klick – fertig. Sächsische Zei­tung (dpa), 17. April 2016.

Links zu den Songs + Übersetzungen

Mari Kalkun: Mõtsavele mäng;

aus: Ilmamõtsan ('Im Wald der Welt', 2017)

Videoclip

Album mit Song (Nr. 4) auf bandcamp.com

Website der Sängerin mit Infos und Texten mit engl. Übers. (Mõtsavele mäng: Text Nr. 4)

Weitere Infos auf global-music.de

Übertragung ins Deutsche:

Das Waldbruderspiel

Ich bin durch den Wald gegangen,

sii-saale-soo-saale-seira!

Durch den Wald habe ich mir meinen Weg gebahnt,

durch den Morast, durch den Sumpf.

Und wen habe ich auf meinem Weg getroffen?

Ich habe fünf Brüder auf meinem Weg getroffen.

Männer so stark wie Ochsen,

Frauen mit schneidenden Stimmen

saßen um ein Feuer.

Dort aßen sie ihr Rehfleisch,

sie tranken Moossuppe,

sie kochten sich Moorwasser,

sie schliefen in Moosbetten.

Sii-saale-soo-saale,

sii-saale-soo-saale …

Der Wald ernährt sie,

der Wald beschützt sie,

die Flügel des Waldes bedecken sie.

[Sie leben] im Wald wie Tiere,

wie die kleinen Vögel des Himmels.

"Komm heraus, Bruder,

ich werde dich bestimmt nicht fangen!"

"Nein, heute kann ich nicht kommen …"

Waldbrüder: Zu den baltischen Widerstandskämpfern gegen die sowjetische Besatzung vgl. den Beitrag von Ruth Leiserowitz auf alles-über-litauen.de: Waldbrüder – Kampf um Litauen. Danach lebten "die Waldleute (…) in kleinen unterirdischen Bunkern, die meistens nur einen Ausgang hatten. Wurden sie dort aufgespürt, blieb ihnen praktisch keine Verteidi­gungsmöglichkeit. Bunker gab es in Wäldern, auf Höfen und auch an den Dorfperipherien. Mit der Zeit mangelte es, auch bedingt durch die Erhöhung des Abgabensolls und die Kollektivierung, an Lebensmitteln."

Der folgende Auszug aus den Tagebuchaufzeichnungen eines Widerstandskämpfers (Lionginas Baliukevičius, Deckname Dzu­kas) zeigt, dass der Wald sich zwar als Rückzugsort anbot, zugleich aber auch die Gefahr des Überwältigtwerdens durch den Feind erhöhte: "In einem großen Wald kriegt man schwer mit, dass Gefahr droht, und wenn sie kommt, dann so unerwartet, dass sie große Verluste bewirkt. Am wichtigsten ist, dass große Wälder die Wachsamkeit vermindern, ist man doch in waldlosen Gebieten an Gefahren gewöhnt, lebt mit ihnen und ist auf diverses Unglück vorbereitet" (zit. nach ebd.).

Trad.Attack!: Kuukene

aus: Trad.Attack! (EP, 2014); Text: Emilie Kõiv (1966)

Videoclip

Acoustic Session an der Chinesischen Mauer

Liedtext mit englischer Übersetzung

Infos zur Band

Übertragung ins Deutsche:

[An den] Mond

Lieber Mond,

süßer Stern der Morgenröte,

nimm mich in dir auf!

Möge mein Körper stark werden

und den Fährnissen des Lebens trotzen!

Sõpruse Puiestee: Kaotaja

aus: Mustale Merele (2003)

Lied (mit Text)

Text mit englischer Übersetzung und Link zum Song

Freie Übertragung ins Deutsche:

Verlierer

Es gibt Räume, denen wir nie entkommen können

und Wände, die wir nicht durchdringen können.

Es gibt Entfernungen, die so unermesslich sind

wie die Ewigkeit oder wie eine ausgestreckte Hand.

Ich bin nur unterwegs, um mich selbst zu verlieren,

ich bin nur unterwegs, um mich zu verleugnen.

Die Zeit ist der Preis der verlorenen Dinge

für diejenigen, die an mich geglaubt haben.

Es ist Nacht, wieder Zeit zum Aufbruch,

ich werde deine Gedanken nicht mehr von deinem Nacken ablesen.

Deine Bewegungen, dein Atem, deine Wärme:

Alles ist mir fremd geworden.

Deine Blicke erreichen mich nicht mehr,

sie prallen ab an meinem starren Blick.

Meine Worte erreichen dich nicht mehr,

sie sind nur noch sinnlose Silben für dich.

Du bist nur unterwegs, um mich zu verlieren,

du bist nur unterwegs, um all das zu verleugnen,

was uns miteinander verbunden hat

und uns immer wieder einen neuen Anfang ermöglicht hat.

Dies ist die Welt, wir sind ein Teil von ihr,

wir gehen in ihren Besitz über, wir sind ihre Kinder.

Wir werden zu namenlosen Überbleibseln auf ihrem Schreibtisch,

wir werden zu Büroklammern, Radiergummis,

zerbrochenen Reißzwecken auf dem Schubladenboden,

in ständiger Angst, im Mülleimer zu landen.

Trauernder,

warum weinst du?

Wisch dir die Tränen ab,

den Beutezug des Todes hältst du ohnehin nicht auf.

Wenn du weinst,

dann tu es deinetwegen:

Heute bist du noch du selbst,

aber morgen schon verlierst du dich vielleicht.

Dort, durch den Herbstregen, siehst du jemanden gehen,

jemanden, der sich noch immer für sich selbst hält.

der noch immer die Hände in seinen Taschen, einen Regentropfen auf dem Gesicht fühlt –

einen ganz bestimmten Regentropfen zwischen all den anderen,

der ihm aber schon fremd wird. Ein unbestimmter Schmerz,

ein unbestimmter Schmerz macht sich in deinem Inneren breit:

Weinst du selbst oder ist das jemand anders,

weint jemand anders um dich?

Werde ich ein Herz aus Stein haben, eine Seele aus Herbstblättern

an dem Tag, an dem ich mich endgültig verliere?

Es ist schwer, dich so zu lieben, wie du bist,

aber wer könnte dich lieben, wenn du nicht existieren würdest?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Rotherbaron

Autor, Blogger. Themen: Politik, Gesellschaft, Natur und Umwelt, Literatur, Kultur. Seiten: rotherbaron.com; literaturplanetonline.com

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