Gesundheitspolitischer Zickzackkurs

Reformen Die Pläne der SPD für ein gerechteres Gesundheitssystem greifen zu kurz

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Wenn es nach der SPD geht, sollen Kassenpatienten den Ärzten künftig genauso viel einbringen wie Privatpatienten. Doch das reicht noch nicht aus
Wenn es nach der SPD geht, sollen Kassenpatienten den Ärzten künftig genauso viel einbringen wie Privatpatienten. Doch das reicht noch nicht aus

Foto: imago/photothek

Historisch schlechte Wahl- und Umfrageergebnisse haben die SPD das Wörtchen "sozial" in dem Begriff "Sozialdemokratie" entdecken lassen. So geschehen auf einmal höchst spannende Dinge in diesem unserem Land: Die Sozialdemokraten entdecken die Sozialdemokratie!

Zwar hätte man diese Expedition in den unbekannten Kontinent der eigenen Herkunft lieber in der Opposition unternommen. Denn: In der Opposition kostet es nichts, sozial zu sein. Und: In der Opposition entfallen auch die Streichelkampagnen der Wirtschaft, durch die aus einem Herz für Arme schon einmal ein Hartz für Arme geworden ist.

Nun stand dieser Strategie bekanntlich der neue Basta-Mann Christian Lindner im Weg. Also muss man sich das Markenzeichen "sozial" nun wieder mit den Christlich-Sozialen teilen, die unter sozialem Engagement und gelebtem Christentum bekanntlich Sammelabschiebungen und mehr Nachsicht für das Scheffelbedürfnis der Reichen verstehen.

Um sich dagegen zu behaupten, hat die SPD die Krankenversicherung neu für sich entdeckt. Ab sofort soll die Gesundheitsversorgung hierzulande gerechter werden. Keine Zweiklassenmedizin mehr! Keine Benachteiligung der sozial Schwachen mehr! Jedes Leben muss gleich viel wert sein!

Moment mal – war die gar nicht so soziale Praxisgebühr seinerzeit nicht unter einer sozialdemokratischen Gesundheitsministerin eingeführt worden? Fallen in deren Amtszeit nicht auch weitere Gerechtigkeitskiller wie die Einführung der Zuzahlungspflicht für verschreibungspflichtige Medikamente und die Abschaffung der Kostenerstattung für nicht verschreibungspflichtige Medikamente? Werden wir hier also Zeugen eines Jekyll-and-Hyde-Spektakels?

Ach was – damals hatten die Sozialdemokraten einfach noch nicht entdeckt, dass auch das Gesundheitssystem sozialdemokratisch sein kann. Jetzt, nach dem sozialdemokratischen Saulus-Paulus-Mysterium, soll alles anders werden. Der Beleg: Ärztliche Dienstleistungen sollen einheitlich entlohnt werden, die höheren Sätze bei der Behandlung von Privatpatienten sollen entfallen. Und damit bricht dann endlich das Reich der großen Gesundheitsgerechtigkeit an.

Klingt gut – aber leider bleiben dabei ein paar nicht ganz unwichtige Detailfragen unbeantwortet. So bleibt zunächst offen, wie die Angleichung der Entgeltordnung von gesetzlichen und privaten Krankenkassen umgesetzt werden soll. Sollen die gesetzlichen Krankenkassen – was diese im Übrigen schon abgelehnt haben (1) – die Ärztehonorare anheben? Und müssten dann nicht die Krankenkassenbeiträge ebenfalls angehoben werden, so dass die Versicherten selbst die Zeche für die erhöhte Gerechtigkeit zu zahlen hätten? Oder will man die privaten Krankenkassen zwingen, ärztliche Dienstleistungen schlechter zu entlohnen? Wird man sie dann auch dazu zwingen, das eingesparte Geld an die Versicherten zurückzugeben? Und wie werden die Ärzte auf die Einbußen, die sie dadurch erleiden würden, reagieren? Werden sie den sozialdemokratischen Selbstfindungsprozess selbstlos unterstützen? Oder könnte darunter vielleicht doch ihre Motivation, dem großen Projekt der Gerechtigkeit zu dienen, leiden?

Gut, vielleicht bin ich einfach zu phantasielos, um mir eine harmonische Auflösung all dieser Problemknoten vorstellen zu können. Dann aber bleiben noch immer ein paar Ungerechtigkeitsbrocken übrig, die durch eine einheitliche Entlohnung ärztlicher Dienstleistungen keineswegs aus dem Weg geräumt würden. Zu nennen sind dabei insbesondere:

  1. die Budgetierung, also die Praxis, die Ausgaben der Ärzte pro Quartal zu deckeln. Dies führt dazu, dass Ärzte, die ihr Budget am Ende eines Quartals erschöpft haben, vor der Wahl stehen, Patienten kostenlos zu behandeln oder ihnen erst einen Termin für das nächste Quartal zu geben. Da es für Privatpatienten keine Budgetierung gibt, gelten für sie diese Einschränkungen nicht. Diese Gerechtigkeitslücke würde auch nach einer Angleichung der Entgeltordnungen von privaten und gesetzlichen Krankenkassen fortbestehen. Sie ist in besonderem Maße sozial diskriminierend, da sie Regionen und städtische Bezirke, in denen mehr marginalisierte und folglich auch mehr gesundheitlich angeschlagene Menschen leben, pauschal betrifft. Damit tut sich hier übrigens auch eine Gerechtigkeitslücke unter Ärzten auf, da Arztpraxen in reicheren Gegenden weniger stark von der Budgetierung betroffen sind;
  2. die Zuzahlungspflicht bei Medikamenten und die für stationäre Aufenthalte in Einrichtungen der Krankenpflege (Krankenhäuser, Reha-Zentren, Kurkliniken) zu entrichtenden Gebühren. Beides ist sozial ungerecht, da die Gebühren einkommensunabhängig erhoben werden und so ärmere Bevölkerungsschichten stärker treffen als reichere;
  3. die Praxis, Augen und Zähne als Luxusgüter zu behandeln, die für einen Menschen notfalls auch entbehrlich wären. Wer hierzulande gut sehen und auch im Alter noch "kraftvoll zubeißen" möchte, muss heutzutage gut betucht sein. Menschen mit dünnerem Geldbeutel müssen sich mit Discounterbrillen bescheiden und auf dem Zahnfleisch kauen;
  4. die Zerstückelung der Versicherungsleistungen in eine Unzahl von Zusatzleistungen, die zu einem "Basispaket" hinzugebucht werden können. Auch dies hat zur Folge, dass weniger weich gebettete Zeitgenossen mit der Grundversorgung abgespeist werden, während Menschen mit fetten Pluszeichen auf dem Konto allerlei Sonderbehandlungen beanspruchen können (was übrigens auch innerhalb der Privatversicherung gilt);
  5. der aus einem fiktiven, oft unrealistischen Monatseinkommen abgeleitete Beitragssatz für Kleinstunternehmer, der dazu führt, dass manche von ihnen ihre Krankenkassenbeiträge entweder gar nicht bezahlen können oder einen Großteil ihrer Einkünfte an die Versicherung abführen müssen (2).

So krankt das abgespeckte Gerechtigkeitsmodell für die Gesundheitsversorgung an ähnlichen Inkonsequenzen und inneren Widersprüchen, wie sie auch für das radikalere Reformprojekt einer "Bürgerversicherung" kennzeichnend sind. Denn "Bürgerversicherung" bedeutet ja keineswegs "Einheitsversicherung". Vielmehr soll, wie es in einem Positionspapier der SPD heißt, auch unter ihrem Dach der "Wettbewerb" unter den Krankenkassen erhalten bleiben (3). Wettbewerb aber ist immer mit Ungleichheit und Ungerechtigkeit verbunden. Im Bereich der Krankenversicherungen hat er zur Folge, dass die Erstattung von Behandlungsleistungen nicht von deren medizinischer Notwendigkeit abhängt, sondern davon, ob das Kalkulationsmodell der jeweiligen Krankenkasse die entsprechende Behandlung vorsieht.

Daneben gibt es natürlich auch bei der Bürgerversicherung eine absolute Obergrenze erstattungsfähiger Leistungen, die von dem entrichteten Krankenkassenbeitrag abhängt. Wohin das führt, kann man in Österreich beobachten, dessen Gesundheitssystem auf einer Art Bürgerversicherung aufbaut. Dort gibt es mittlerweile eine wachsende Zahl so genannter "Wahlärzte", die gar nicht mehr mit den Krankenkassen abrechnen, sondern auf eigene Rechnung arbeiten und es ihren Patienten überlassen, sich einen Teil des Geldes von den Krankenkassen zurückzuholen. Dieser "Service" richtet sich natürlich in erster Linie an die betuchtere Kundschaft, so dass hier die Zweiklassenmedizin durch die Hintertür wieder eingeführt wird (4).

Die Umstellung des Gesundheitssystems auf eine Bürgerversicherung führt damit keineswegs automatisch zu mehr Gerechtigkeit. Erst recht bringen einzelne kosmetische Maßnahmen hier keinen wesentlichen Fortschritt. Notwendig wäre vielmehr ein Paradigmenwechsel, durch den der Bereich der Gesundheitsvorsorge und Krankenpflege nicht mehr den Kriterien von Effizienzsteigerung, Kostenoptimierung und Gewinnmaximierung unterworfen wäre.

Stattdessen müsste das in der Verfassung garantierte Recht auf körperliche Unversehrtheit im Sinne eines Anspruchs auf Schutz vor körperlicher Versehrtheit interpretiert werden. Dies würde bedeuten, dass der Bereich der Gesundheitsvorsorge und Krankenbetreuung vollständig in staatliche Verantwortung überzugehen hätte. Es gäbe dann überhaupt keine Versicherungen mehr, sondern ein steuerbasiertes Gesundheitssystem mit staatlichen Behandlungszentren, zu denen alle gleichermaßen und gleichberechtigt Zugang hätten.

Ja, dieses Modell gab es in den realsozialistischen Ländern und ja, es hat dort zu diversen Fehlentwicklungen geführt. Auch dort gab es einige, die gleicher waren als andere und sich durch gut gefüllte Konfektschachteln eine Vorzugsbehandlung erschleichen konnten. Der Grund dafür war eine Unterfinanzierung des Systems im Allgemeinen und eine Unterbezahlung der Ärzteschaft im Besonderen. In Schweden, wo man ebenfalls auf (überwiegend steuerfinanzierte) Gesundheitszentren setzt, gilt die Gesundheitsversorgung dagegen als vorbildlich. Zurückzuführen ist dies außer auf die dezentrale, regionale Gegebenheiten berücksichtigende Organisation des Gesundheitssystems vor allem auf dessen gute finanzielle Ausstattung (5).

Damit ist das auf vollständige Gleichbehandlung ausgerichtete Gesundheitssystem der realsozialistischen Länder letztlich von demselben Kernproblem ausgehöhlt worden wie unser heutiges System: von der fehlenden Bereitschaft, dem Gerede von der Gesundheit als zentralem Gut des Menschen auch materiell Ausdruck zu verleihen.

Wie gerecht unser Gesundheitssystem ist, hängt demnach von dem vorherigen Bekenntnis zu dem unbedingten Wert des Lebens ab. Baut man das Gesundheitssystem auf dieser Grundlage auf, verbietet sich Ungleichbehandlung ganz von selbst. Dann muss jeder die Behandlung erhalten, die ihm ein Höchstmaß an Lebensqualität ermöglicht. Kostenvermeidung würde dann nicht mehr auf dem Rücken der Patienten ausgetragen, sondern durch eine härtere Gangart gegenüber der Pharmalobby und Einsparungen im Bereich der ausufernden Verwaltungs- und Dokumentationstätigkeiten umgesetzt. Und die Gesundheitssteuer, die wir dann einführen würden, würde die Wohlhabenderen natürlich stärker zur Kasse bitten als den unterprivilegierten Teil der Gesellschaft.

Was die ÄrztInnen anbelangt, so müsste ihre Leistung selbstredend entsprechend honoriert werden. Denkbar wären neben einem Grundgehalt Prämien, die etwa bei besonders anspruchsvollen Behandlungen ausgezahlt werden könnten. Außerdem müsste Gesundheitsvorsorge selbstverständlich auch für das medizinische Personal gelten – was bedeuten würde, dass niemand mehr durch Endlosschichten an den Rand der Erschöpfung (oder darüber hinaus) getrieben werden dürfte.

Nachweise:

(1) ÄrzteZeitung: Pfeiffer [Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes] will keine Bürgerversicherung zulasten der GKV; 3. Januar 2018.

(2) Krankenkassenzentrale: Krankenkassenbeiträge für Solo-Selbständige zu hoch; 2. März 2017.

(3) Deutsches Ärzteblatt: Lauterbach legt Eckpunkte zur Bürgerversicherung vor; 13. Dezember 2017.

(4) Govedarica, Srdjan: Österreich: Wo die Bürgerversicherung schon Realität ist. Deutschlandfunk, 4. Januar 2018.

(5) Berger, Ylva: Die Grundversorgung in Schweden. In: Managed Care 8 (2004), S. 10 – 12; für einen aktuellen Überblick vgl. den Eintrag im PflegeWiki zum Gesundheitssystem in Schweden.

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Geschrieben von

Rotherbaron

Autor, Blogger. Themen: Politik, Gesellschaft, Natur und Umwelt, Literatur, Kultur. Seiten: rotherbaron.com; literaturplanetonline.com

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