Lungenfachärzte für Luftverschmutzung

Luftschadstoffe Nicht jeder Lungenfacharzt ist ein Schadstoffexperte. Willkommen am Medizinerstammtisch

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Foto: Johannes Simon/Getty Images

Folgt man Dieter Köhler, dem ehemaligen Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie, so handelt es sich bei jenen, die sich um die Feinstaubbelastung in deutschen Städten sorgen, um hysterische Sektierer. Übertragen auf Zigarettenkonsum, müsste – wie Köhler und seine Mitstreiter in einem Positionspapier ausführen – bei den aktuell gültigen EU-Grenzwerten ein durchschnittlicher Raucher nach wenigen Monaten versterben[1].

Diese Argumentation ist von den Stammtischrunden bestens bekannt: Wie? Rauchen soll gesundheitsschädlich sein? Und warum ist Helmut Schmidt dann so alt geworden? Die Abweichung von der Norm wird als Argument für die Ungültigkeit der Norm herangezogen. Der Einzelfall wird verabsolutiert, anstatt dass die Risikoanalyse auf das bezogen wird, was sie aussagt: die erhöhte Wahrscheinlichkeit, bei einer entsprechend erhöhten Schadstoffbelastung früher zu sterben.

Köhler und die Mitunterzeichner des von ihm initiierten Positionspapiers bemühen sich um eine streng wissenschaftliche Argumentation. Demnach sind die Untersuchungen und Meta-Studien zur Feinstaub- und Stickstoffoxid-Belastung, wie sie etwa vom Umweltbundesamt und der Weltgesundheitsorganisation vorgelegt worden sind, dadurch fehlerhaft, dass sie intervenierende Variablen unberücksichtigt lassen. Es würde also nur pauschal die Sterberate in Gebieten mit hoher und niedriger Feinstaubbelastung miteinander verglichen. Faktoren wie abweichende Lebensstile, gesunde Ernährung und sportliche Aktivität blieben dagegen unberücksichtigt.

Die Autoren räumen selbst ein, dass dafür Menschenversuche notwendig wären, die ethisch nicht vertretbar seien. Die Schlussfolgerung ist jedoch – um im Bilde zu bleiben – atemberaubend: Weil derartige Versuche nicht zu rechtfertigen seien, müsse man die Grenzwerte einstweilen aussetzen oder zumindest deutlich nach oben korrigieren.

Es verwundert kaum, dass derartige Äußerungen – dazu noch aus so berufenem Munde – ein vernehmliches „Halleluja“ im deutschen Raserparadies ausgelöst haben. Gerade noch vom Vorschlag einer Expertenkommission gebeutelt, mit einem generellen Tempolimit auf Autobahnen zum Klimaschutz beitragen zu sollen, erhält die deutsche Autoindustrie nun einen erstklassigen Freifahrtschein zum Rasen und Luft Verpesten.

An vorderster Stelle der Claqueure: Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer. Richtig: Das ist der, der die Empfehlungen der eigenen Expertenkommission kurzerhand vom Tisch gewischt hat, indem er mit höchstministerlicher Autorität dekretiert hat, der Vorschlag eines generellen Tempolimits auf deutschen Autobahnen sei „gegen jeden Menschenverstand“ [2].

Zwar gibt es etliche Untersuchungen, die die Erhöhung der Verkehrssicherheit und die Reduzierung der Schadstoffemissionen durch durchgehende Tempolimits belegen [3]. Auch entspricht dies der Praxis der meisten anderen europäischen Länder [4], deren Autofahrer so implizit zum Rasen nach Deutschland eingeladen werden. Allerdings ist Andreas Scheuer nicht gerade dafür bekannt, seine Äußerungen durch wissenschaftlich fundierte Studien abzusichern. Im Gegenteil hat er versucht, sein an bayrischen Bierzelten geschultes Rhetortalent auf die Wissenschaft zu übertragen. Ein Versuch, der daran gescheitert ist, dass Scheuer ihn mit der hohen Kunst des Plagiats vermischt hat [5].

Dennoch zeugt Scheuers innovativer Promotionsversuch immerhin von einem generellen Intreresse für die Welt der Wissenschaft. So ist er auch gerne bereit, Stellungnahmen von Wissenschaftlern dort zu berücksichtigen, wo sie ihm politisch ins Konzept passen. Eben diesen Gefallen hat ihm die Ärztegruppe um Dieter Köhler getan.

Wie? Köhler et al. stellen den Abgastricksern von VW und Co einen Persilschein aus? Aber nicht doch, so war das nicht gemeint, beteuern die Herren Fachärzte. Ihnen gehe es nur um wissenschaftliche Genauigkeit!

Seltsam – warum muss ich bei solchen Äußerungen an die Gefälligkeitsstudien denken, die einst von Köhlers Kollegen für die Zigarettenindustrie erstellt worden sind? Ging es da auch nur um wissenschaftliche Genauigkeit? Oder war es nicht vielmehr das Ziel, den angeblichen Sektierern von der Nichtraucherfront mit pseudo-empirischen Studien den Wind aus den Segeln zu nehmen?

Was Köhler und Konsorten außer Acht lassen: Die Grenzwerte, die die EU für die Feinstaub- und Schadstoffbelastung vorschreibt, sind bereits deutlich höher als die von der WHO empfohlenen [6] – und zwar nicht zuletzt auf Druck aus deutschen Autolanden. Wer hier mit Gelehrtenspitzfindigkeit zur Verharmlosung der Gefahren beiträgt, die von der Luftverschmutzung insbesondere in den Städten ausgeht, singt also – gewollt oder ungewollt – das Lied ganz bestimmter Industriebarone, die sich schon jetzt nicht um die Gesundheitsgefahren scheren, die von ihren Produkten ausgehen.

Hinzu kommt, dass die Argumentation in dem Positionspapier seltsamerweise einseitig auf der Befindlichkeit kerngesunder Menschen basiert. Diese mögen in der Tat trotz erhöhter Schadstoffbelastung den ihnen zugemessenen Schatz an Lebensjahren ausschöpfen können. Von einem Lungenfacharzt würde man jedoch erwarten, dass er eher an den Kranken ansetzt, an jenen Menschen, deren Lungen und Bronchien ohnehin schon vorgeschädigt sind und für die jede zusätzliche Schadstoffbelastung unzumutbar ist.

Es ist zudem völlig unverständlich, warum ausgerechnet jemand, der mit intervenierenden Variablen argumentiert, die fatalen Wechselwirkungen außer Acht lässt, die sich aus multiplen Belastungen ergeben. Gerade die – nicht selten zu beobachtende – Gleichzeitigkeit von Schadstoffbelastungen, allergisch-asthmatischen Erkrankungen und/oder Zigarettenrauch oder ähnlichen negativen Faktoren kann einen Teufelskreis in Gang setzen, bei dem Feinstaub und Stickoxide wie Brandbeschleuniger in einem sich selbst verstärkenden Prozess wirken.

Ein Arzt, dem empirische Erbsenzählerei und die besserwisserische Maßregelung seiner Kollegen wichtiger sind als das Wohlergehen der Patienten, stärkt jedenfalls kaum das Vertrauen in die Ärzteschaft.

Nachweise:

[1] Köhler, Dieter u.a.: Stellungnahme zur Gesundheitsgefährdung durch umweltbedingte Luftverschmutzung, insbesondere Feinstaub und Kritik an der Stellungnahme von Dieter Köhler und Kollegen: Deutschlandfunk. Gesundheitsexperte: Das sind alles Laien

[2] Vlg. Peetz, Katharina: Debatte um Tempolimit für den Klimaschutz. Deutschlandfunk, 21. Januar 2019.

[3] Vgl. Lottsiepen, Gerd: Tempolimit auf Autobahnen: Für mehr Klimaschutz und Verkehrssicherheit. Verkehrsclub Deutschland (vcd.de). Mit weiterführenden Links.

[4] Vgl. die Übersicht zu Geschwindigkeitsbegrenzungen in Europa auf kfz-auskunft.de

[5] Vgl. Sturm, Daniel Friedrich: Andreas Scheuer ist ein Doktor Dünnbrettbohrer. Die Welt, 1. Februar 2014; zu den Plagiatsvorwürfen vgl. vor allem die Gegenüberstellung in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 18. Januar 2014: CSU-Generalsekretär: Scheuer durfte in Passau nicht promovieren.

[6] Drose, Christopher: WHO-Grenzwerte reihenweise überschritten. Interaktive Karte: Der Südwesten im Feinstaub-Check. SWR, 20. November 2017.

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Geschrieben von

Rotherbaron

Autor, Blogger. Themen: Politik, Gesellschaft, Natur und Umwelt, Literatur, Kultur. Seiten: rotherbaron.com; literaturplanetonline.com

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