Vive la dictature! - Entdemokratisierung

Demokratieverlust Rechtsstaatliche und demokratische Grundsätze drohen im „Kampf gegen den Terror“ zu verblassen. Mehr und mehr sickern diktatorische Denkmuster in Alltag und Politik

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Vive la dictature! - Entdemokratisierung

Foto: Philippe Wojazer/AFP/Getty Images

Wann werden wir uns wohl abgewöhnen, den weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko als "letzten Diktator Europas" zu bezeichnen? Mit der Realität hat dieser Ehrentitel jedenfalls längst nichts mehr zu tun. In Ungarn verfügt Viktor Orban bereits seit 2010 faktisch über unumschränkte Macht, in Polen sind die Schaltstellen der Macht gerade von einer Partei besetzt worden, deren Vorsitzender das ungarische Herrschaftsmodell ausdrücklich als Vorbild für sein Land bezeichnet hat. Und in der Türkei ist das Volk soeben erneut an die Wahlurnen gerufen worden, nachdem ihr Präsident die ihm nicht genehme Entscheidung in den wenige Monate zuvor abgehaltenen Wahlen als "Fehler" abgetan hatte – wer fühlt sich da nicht an Bertolt Brechts Ratschlag an volksmüde Regierungen erinnert, sich doch einfach ein neues Volk zu wählen?

Der Boden, auf dem die Zustimmung für diktatorische Regierungsformen gedeiht, ist das Gedankengut, das rechtspopulistische und rechtsextreme Bewegungen schon seit geraumer Zeit überall in Europa verbreiten. Mancherorts haben sich hieraus reguläre Parteien entwickelt, andernorts mündet die Entwicklung eher in Law-and-Order-Aufmärsche und Zündelorgien nationalistischer Gruppierungen. Die Folge ist allerdings hier wie dort das Einsickern der entsprechenden Argumentationsmuster in die offizielle Politik der jeweiligen Länder. Entweder sind die rechtsextremen bzw. rechtspopulistischen Parteien mittlerweile zu einer bestimmenden Kraft im Parlament geworden, oder sie üben indirekt – durch das Wählerpotenzial, das sie repräsentieren – Einfluss auf das Handeln der Regierungen aus. Letzteres ist für die Demokratie vielleicht sogar noch gefährlicher, da es dazu führt, dass sich auch die Politiker anderer Parteien an der entsprechenden Ideologie orientieren.

Die zentralen Kennzeichen dieser Ideologie sind Fremdenfeindlichkeit und der Ruf nach einem starken Führer. Beides hängt eng miteinander zusammen. Denn die Fremdenfeindlichkeit wird ja befeuert, indem man die Angst vor dem Fremden schürt. Und gegen diese Angst hilft eben angeblich nur der große Vater-Führer, der das Volk gegen Bedrohungen von innen und außen schützt. Demokratische Entscheidungsprozesse erscheinen dabei selbst als Bedrohung, da sie den nationalen Führer davon abhalten, seine für den Schutz der Nation notwendige Stärke zur Entfaltung zu bringen.

Dies ist die Logik, mit der Recep Tayyip Erdoğan die Einführung des Präsidialsystems in der Türkei vorantreibt. Und es war exakt das Schüren der Angst vor einem äußeren und inneren Feind – in diesem Fall den Kurden –, der ihn diesem Ziel näher gebracht hat. Ähnlich agiert in Russland Wladimir Putin, wenn er Nichtregierungsorganisationen dazu zwingt, sich als "ausländische Agenten" zu registrieren, und so die letzten Akteure der in Trümmern liegenden Zivilgesellschaft als potenzielle Staatsfeinde diffamiert.

Natürlich könnte man jetzt fragen, was die Türkei und Russland denn mit Europa zu tun haben. Und es stimmt ja auch: Beide Länder gehören geographisch größtenteils eben nicht zu Europa. Richtig ist aber auch, dass beide sich kulturell lange Zeit an Europa orientiert haben. In Russland dokumentiert dies insbesondere die Regentschaft Zar Peters des Großen, der sich in bei der Umgestaltung des Staatswesens von der europäischen Frühaufklärung inspirieren ließ und die neue Hauptstadt St. Petersburg als "Tor nach Europa" errichten ließ. In der Türkei stehen hierfür die Reformbestrebungen Kemal Atatürks, die als Kemalismus zur Grundlage des modernen türkischen Staates geworden sind.

Lange Zeit hat man in den europäischen Hauptstädten vor diesem Hintergrund die Entdemokratisierungsprozesse in Russland und der Türkei mit Sorge betrachtet. Flüchtlingskrise und Terrorangst haben aber nun zu einer deutlichen Akzentverschiebung geführt. So hat die EU-Kommission dem als Flüchtlingskontrolleur benötigten türkischen Präsidenten nicht nur vor den von ihm angesetzten 'Korrekturwahlen' die Veröffentlichung des Fortschrittsberichts zu den EU-Beitrittsverhandlungen – der in Wahrheit ein Rückschrittsbericht war – erspart. Kurz vor dem Urnengang wurde er auch noch durch einen Besuch der deutschen Bundeskanzlerin aufgewertet. Und Putins "Demokratur" erscheint angesichts der Terrorgefahr ebenso wie sein aggressives Eingreifen in den Syrienkonflik zu Gunsten Assads als etwas, das man auf einmal mit einem rücksichtsvollen Blick auf russische Eigenarten und Eigeninteressen für entschuldbar hält – wenn man darin nicht gleich ein Modell für das eigene Handeln sieht. Viktor Orban schließlich werden die Baupläne für seinen Grenzzaun, den zu verurteilen bis vor Kurzem noch als demokratische Bürgerpflicht galt, nun überall in Europa aus den Händen gerissen.

Unversehens werden so diktatorische Denkmuster zur Richtschnur für das politische Handeln. In der Syrienkrise hat dies insbesondere eine Neubewertung der Rolle Assads zur Folge, der nun plötzlich wieder als Ansprechpartner für eine Lösung des Konflikts gilt. Der gönnerhafte Triumph, mit dem die neue Hoffähigkeit des syrischen Diktators in Moskau kommentiert wird, ist kaum zu überhören: Hatte man nicht gleich gesagt, dass der syrische Machthaber als ordnungspolitischer Faktor unverzichtbar wäre? Und hatte das nicht auch schon im Irak gegolten? Wie konnte der Westen auch das funktionierende Regime Saddam Husseins stürzen und mit der Zerstörung dieser Ordnungsmacht die Region destabilisieren! Haben all die Demokratisierungsversuche den Menschen vor Ort nicht nur Chaos, Leid und Tod beschert?

Diese Argumentation ist gefährlich, weil sie – wie alle polemische Rhetorik – auf Halbwahrheiten beruht. Richtig ist: Der westliche Angriff auf den Irak war völkerrechtswidrig. Er hat die staatlichen Strukturen des Landes zerstört, zahllosen Unschuldigen Tod und Verderben gebracht und einen Großteil der Iraker ihrer Lebensgrundlagen beraubt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Saddam Hussein, der die Opposition im eigenen Land brutal unterdrückt hat, Nachbarstaaten nach Belieben angegriffen und die Kurden im Nordirak mit Giftgas bekriegt hat, nun im Rückblick als 'guter Diktator' zu gelten hätte. Ebenso wenig lässt sich aus dem Scheitern des Westens im Irak ableiten, dass man nun wieder reumütig auf den Völkermörder Assad zugehen und ihm zu einem Wiederaufbau seiner Diktatur verhelfen sollte. Dies hieße doch nur, einen Fehler mit einem anderen wiedergutmachen zu wollen.

Der Grund dafür, dass solche diktatorischen Denk- und Handlungsmuster auf einmal den demokratischen Diskurs durchsetzen, scheint mir allerdings nicht nur in der durch die Anschläge von Paris gesteigerten Terrorangst zu liegen. Die tiefer liegende Ursache ist wohl eher ein unzureichendes Demokratieverständnis, insbesondere eine mangelhafte Unterscheidung zwischen formalen und substanziellen Voraussetzungen einer Demokratie. Die formalen Voraussetzungen – in erster Linie allgemeine, gleiche und freie Wahlen – sind dabei ein notwendiger, aber kein hinreichender Ermöglichungsgrund für eine funktionierende Demokratie. Beruht diese nicht auf einer allgemeinen Achtung der Menschenrechte, so gerät sie zu einer Farce, in der – wie in Weißrussland – sich ein Diktator in Wahlen immer wieder seine Alleinherrschaft (schein-)legitimieren lässt oder – was uns in Deutschland ja nicht unbekannt sein dürfte – ein gewaltbereiter "Führer" schlicht die Abschaffung der Demokratie demokratisch absegnen lässt.

Allgemeinplätze des demokratietheoretischen Diskurses, möchte man meinen. Faktisch beruht das Scheitern des Westens bei der Bemühung um eine Demokratisierung des Iraks aber eben auch auf einem verkürzten Demokratiebegriff. Die Abhaltung von Wahlen galt hier als eine Art Allheilmittel, das den an der Wahl Beteiligten wie durch Zauberhand auch ein substanzielles Verständnis demokratischer Prozesse einimpfen sollte. Entsprechend entsetzt war man dann, als die Wahlentscheidungen entlang ethnischer oder religiöser Trennlinien getroffen wurden bzw. – wie später in anderen Staaten im Anschluss an die so genannte "Arabellion" – für jene islamistischen Gruppierungen votiert wurde, die die diktatorischen Regime zuvor jahrzehntelang gewaltsam von der Macht ferngehalten hatten.

Natürlich muss man hierbei auch berücksichtigen, dass der angebliche Plan einer Demokratisierung des Iraks nur ein Mittel war, um den faktischen Krieg um Rohstoffe zu kaschieren. Diese Propaganda konnte jedoch nur deshalb verfangen, weil sie auf einen entsprechend undifferenzierten Demokratiebegriff der Adressaten bauen konnte. Dies zeigt, wie wichtig es ist, in der derzeitigen Krise der Demokratie das Bewusststein für das Wesen demokratischer Strukturen zu schärfen.

Nach innen hin bedeutet dies, wachsam zu sein gegenüber allen Versuchen, die Terrorangst für eine Legitimierung der – schon seit geraumer Zeit zu beobachtenden – Entdemokratisierungsprozesse zu instrumentalisieren. Was den Syrienkonflikt anbelangt, so ist es hier für den einzig erfolgversprechenden Ansatz – eine autochthone Entwicklung demokratischer Strukturen, wie sie etwa in Tunesien durch das mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Nationale Dialogquartett betrieben wird – mittlerweile zu spät. Dies bedeutet allerdings nicht, dass man den Status quo ante zurückbomben, sich also für die Wiedereinführung einer diktatorischen Herrschaftsform einsetzen müsste. Stattdessen kann man sehr wohl konsequent die demokratisch orientierten Widerstandsgruppen unterstützen. Wenn man hier klar Position beziehen würde, könnte man eventuell auch Teile der syrischen Armee – bei der es sich ja keineswegs um einen monolithischen Block handelt – auf seine Seite ziehen und den Krieg so schneller beenden, als es derzeit möglich erscheint.

Ein Hindernis bei der Lösung des Konflikts ist wohl auch das kolonialem Denken geschuldete Festhalten an den derzeitigen Staatsgrenzen. Kriegerische Konflikte haben schon immer die politische Landkarte verändert. Warum sollte man also nicht den Kurden, die bis jetzt die Hauptlast des Kampfes gegen die islamistischen Terrormilizen zu tragen hatten, dafür die Erfüllung ihres lang gehegten, nur allzu verständlichen Wunschs nach einem eigenen Staat versprechen – anstatt sie, wie es derzeit von Seiten der Türkei geschieht, durch die Eröffnung einer zweiten Front zu schwächen?

Ansonsten gilt: Sobald es gelungen ist, die Lage einigermaßen unter Kontrolle zu bringen, wird der Westen sich auf eine längere Präsenz vor Ort einstellen müssen. Anders als im Irak und in Afghanistan geschehen, muss diese so lange andauern, bis die Sicherheit der Bevölkerung dauerhaft gewährleistet ist. Gleichzeitig müssen die aufzubauenden demokratischen Strukturen gefestigt und vertieft werden – und zwar so, dass sie einen substanziellen Charakter im obigen Sinne erhalten und dadurch auch der erneuten Etablierung eines neokolonialen Paternalismus vorbeugen.

Dies mit der Begründung einer angeblich notwendigen Toleranz gegenüber der fremden Kultur abzulehnen, wäre nichts anderes als ein Akt gelebter Heuchelei. Denn man kann ja wohl kaum erst die vorhandenen Strukturen zerstören und sich dann der Verantwortung für den Wiederaufbau mit Verweis auf das plötzlich entdeckte Toleranzgebot entziehen. Ein solcher Toleranzbegriff wäre ebenso hohl wie ein Verständnis von Demokratie, das diese durch das regelmäßige "Abgeben" von Volkes Stimme gewährleistet sieht. Und in der Tat ist ja der Gedanke, dass diejenigen, die bei sich daheim die demokratischen Strukturen immer weiter einschränken, andernorts als Lehrmeister der Demokratie auftreten könnten, ein Widerspruch in sich. Die Hoffnung hierauf aufzugeben, wäre jedoch gleichbedeutend mit einer Kapitulation vor der Diktatur.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Rotherbaron

Autor, Blogger. Themen: Politik, Gesellschaft, Natur und Umwelt, Literatur, Kultur. Seiten: rotherbaron.com; literaturplanetonline.com

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