Die Todgeweihten (?)

Räumung des Hambi Trotz anhängiger Verfahren und ausstehender Gerichtsbeschlüsse wird die Räumung des Hambi, als notwendige Bedingung für die nichtmal feststehende Rodung, angeordnet.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Seit dem Morgen des 13. Septembers 2018 wird der Hambacher Forst geräumt.

Rechtsgrundlage für den Einsatz ist eine Räumungsanweisung der nordrheinwestfälischen Bauministerin Ina Scharrenbach, die diese am Mittwochabend des 12. Septembers verfügt hat.

Grund für diesen Schritt sei Gefahr im Verzug für Leib und Leben der BaumhausbewohnerInnen sowie Brandschutzgründe.

Die Dringlichkeit dieser Bedrohungen verbiete außerdem den Aufschub der Räumung.

Aufgrund dessen befinden sich circa 3500 Polizistinnen im Einsatz, um die knapp 150 dauerhaften KlimaktivistInnen, die Teile des Hambacher Forsts durch beispielsweise Baumhäuser besetzt halten, in 'Sicherheit' zu bringen.

Dabei erfährt die Polizei von NRW Unterstützung aus dem ganzen Bundesgebiet, wie WDR1 berichtet. Es sei der größte und umfangreichste Polizeieinsatz in NRW.

Am Donnerstag wurden die ersten vier der knapp 60 Baumhäuser geräumt. Außerdem Sitzblockaden und Menschenketten aufgelöst, in denen unter anderem auch Sympathisantinnen, Anwohnerinnen sowie protestantische und auch katholische Geistliche vertreten waren.

Die Räumung soll laut polizeilicher Einschätzung mindestens bis Ende nächster Woche andauern.

Gegen die kurzfristig angeordnete Räumung wurden am Donnerstag sieben Eilanträge gestellt, die von verschiedenen Verwaltungsgerichten in Aachen und Köln geprüft wurden und werden. Der erste wurde ablehnend entschieden ohne jedoch eine Begründung anzugeben. Hiergegen wurde Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht Münster eingelegt. Die Entscheidung wird nicht vor Donnerstag dem 14. September um 11 Uhr Morgens erwartet.

Laut Gerichtssprecherin am 13. September, waren erste Entscheidungen der sieben Eilanträge nicht vor 22 Uhr am Donnerstag zu erwarten. Nun stellt sich die Frage, inwiefern es verhältnismäßig ist, diese Räumung fortzusetzen, obwohl sieben Eilanträge (Stand Donnerstag 13.09) zur Einstellung der Räumung geprüft werden. Die Entscheidung wenige Stunden später feststehen wird.

Weiterhin wird derzeit vom Oberverwaltungsgericht Münster geprüft, ob die Rodungen ab dem 01. Oktober 2018 überhaupt durchgeführt werden dürfen. Diese Entscheidung soll bis Ende September fallen, also in circa zwei Wochen.

Vor dem Hintergrund der Energiewende berät des Weiteren seit einigen Monaten die 'Kohlekommission' der Bundesregierung über den Kohleausstieg Deutschlands und wird im Dezember eine Roadmap präsentieren.

Inwiefern ist es verhältnismäßig eine Rodung, die ab Dezember - sollte die Bundesregierung zu ihrer Energiewende stehen - wahrscheinlich in der Form kein Thema mehr sein sollte, im Schnelldurchgang durchboxen zu wollen?

Ökonomische Interessen gegen das - zunächst nur erklärte - Ziel der Energiewende, gegen den erklärten Willen der Anwohnerinnen, für die der Forst mitunter Teil ihres gewohnten Wohnraums darstellt, gegen Bedenken und Protest der organisierten Zivilgesellschaft sowie Teile der politischen Vertreterinnen und vor allem - vor dem Hintergrund des globalen Klimawandels - gegen die Natur durchsetzen zu wollen?

Diese Frage muss sich zunächst RWE, dann die Landesregierung NRW's und außerdem jeder, der die Entwicklung - mittlerweile sogar bundesweit - kritisch beobachtet, beantworten.

Sicherlich wirft diese Entwicklung auch Fragen hinsichtlich des Stellenwertes der Judikative in diesem Lande auf.

Eine Räumung, als notwendige Bedingung zur Rodung, anzuordnen, obwohl gerichtliche Verfahren anhängig sind und noch laufen, die gerade die Rechtmäßigkeit dieses Vorgangs zum Gegenstand haben, ist hoch fragwürdig.

Dass die Polizei eine Räumung fortsetzt, die zum Gegenstand von sieben Eilanträgen geworden ist die derzeit beraten werden (Stand 13.09), wird ebenso für zahlreiche Menschen Fragen aufwerfen.

Ruft man sich in Erinnerung, dass in den vergangenen Monaten beispielsweise auch Abschiebungen durchgeführt wurden, bei denen gerichtliche Verfahren noch liefen oder ein Gericht sogar gegen die Abschiebung entschieden hatte, bekommt die Entwicklung um den Hambacher Forst eine delikate Note. Zumindest vor dem Hintergrund der Ausgangsfrage: des Stellenwerts der Judikative im Spannungsverhältnis mit der Politik und der Wirtschaft.

Letztlich findet man eine Situation vor, in welcher die politischen Akteure nicht willens sind oder es nicht vermögen, die Interessen der (Zivil-)Gesellschaft (und eigentlich auch diejenigen der Bundesregierung) gegen wirtschaftliche Interessen zu schützen. Wie die Deutsche Welle recherchierte handelt es sich bei den angegebenen Gründen RWE's nämlich um rein ökonomische. Bedenken hinsichtlich ausreichender Kohle Kapazitäten konnten widerlegt werden.

Eine Situation also, in welcher die Zivilgesellschaft sich notgezwungenermaßen selbst organisiert, weil sie politisch nicht repräsentiert ist. Sie sich gegen den Klimawandel, gegen die Ausbeutung von Natur und Mensch durch ökonomische Akteure stellt und man mehr und mehr den sicheren Eindruck erhält, dass sie sich auch gegen die Politik stellen muss.

2014 wurden die Baumhäuser der Aktivistinnen noch als keine 'baulichen Anlagen' gewertet. 2018 handelt es sich nach Einschätzung des nordrheinwestfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet (CDU) um 'illegal besetzte Gebiete' und die Bauministerin (CDU) legt Brandschutzbestimmungen sowie andere Sicherheitsvorkehrungen als Referenzpunkt fest, die eben für 'bauliche Anlagen' gelten.

Hat sich die Gesetzeslage verändert oder schimmert hier der politische Wille der Landesregierung durch?

Diese Konfrontation zwischen KlimaaktivistInnen, ihren Sympathisantinnen und AnwohnerInnen auf der einen, RWE, Politik und Sicherheitsbehörden auf der anderen Seite, ist eigentlich die Aushandlung zwischen verschiedenen Interessen und Präferenzen, welche ein wesentlicher Bestandteil der Demokratie ist. Diese sollte eingerahmt sein durch den deutschen Rechtsstaat. Dieser muss für beide Seiten den Rahmen des Legalen aufzeigen und Schutz bieten.

Für die Aktivistinnen und ihre Sympathisantinnen, beispielsweise auf aktuellen Demonstrationen zum oder durch den Forst, die ihren Protest gegen die aktuelle Räumung und die drohende Rodung ausdrücken sollen.

Aber auch für die Polizistinnen und RWE MitarbeiterInnen, die sich in Opposition zu den KlimaaktivistInnen wiederfinden.

Mitentscheidend für die Wirkmächtigkeit des Rechtsstaats als Orientierungs- und Schutzpunkt ist allerdings die Überzeugung von diesem auf beiden Seiten.

Wenn in dieser Situation eine Räumung durchgesetzt wird, 3500 PolizistInnen gegen die KlimaaktivistInnen vorgehen, obwohl gerichtliche Entscheidungen ausstehen (Stand 13.09), kommt die Frage auf, wie glaubwürdig dieser Rechtsstaat noch auftreten kann.

Betrachtet man zudem die Eskalation der vergangenen Wochen, in denen unter anderem 'Waffen'funde als Erfolg der Sicherheitsbehörden präsentiert wurden, bei denen Teile der 'Waffen' nachweislich bereits vor zwei Jahren konfisziert worden sind, muss man sich auch vor der Kontext der Debatte über (bewusste und zielgerichtete?) Desinformation durch den Präsidenten des deutschen Verfassungsschutzes oder auch derjenigen über 'fake news' als alternative Wahrheit des 21. Jahrhunderts, Fragen stellen.

In NRW - sowie in einigen anderen Bundesländern - wird derzeit über ein repressiveres Polizeigesetz beraten, was enorme gesellschaftliche Proteste produziert hat. Die aktuelle Lage des Wohnungsmarktes lässt im gesamten Bundesgebiet mietenpolitische Initiativen und urbane gesellschaftliche Bewegungen entstehen, die sich ebenfalls notgezwungenermaßen organisieren, da die Politik eine progressive Transformation zu Gunsten aller Teile der Gesellschaft nicht vermag oder ihn nicht möchte. Die Interessen der Gesellschaft nicht repräsentiert werden. Zu Gunsten der Wirtschaft.

Auch die 'Asyldebatte' hat hunderttausende Menschen auf die Straßen gebracht, da sie gegen eine inhumane und symbolschwangere Politik protestieren wollen, die sie nicht repräsentiert und letztlich nichts erreicht als eine weitere gesellschaftliche Polarisierung und die Stärkung der Außen.

Auch rechte und völkische Aufmärsche und Versammlungen wie PEGIDA argumentieren in die Richtung, dass sie sich von der Politik nicht repräsentiert fühlen und sie sich deshalb selbst eine Stimme verleihen müssen. Kommt die Frage auf, wer denn eigentlich noch repräsentiert wird?

Gehen wir davon aus, dass diese gesellschaftlichen Proteste nun einfach aufhören? Die Gründe für sie aufgelöst und politisch und sozial nachhaltig gelöst werden?

Somit steht, auch mit dem Blick auf das repressive und vorschnelle Vorgehen der Sicherheitsbehörden im Hambacher Forst gegen Mensch und Natur sowie gegen die organisierte und protestierende Zivilgesellschaft, die Frage im Raume, ob die Polizeigesetzesverschärfungen notwendiges und tatsächliches Instrument gegen 'Terrorismus' und Kriminalität sind, oder doch auch eines gegen die organisierte Zivilgesellschaft? Und somit gegen jeden Menschen, der in sich Protest gegen die Politik wachsen fühlt.

In Kombination mit dem offensichtlichen Unvermögen oder der wissentlichen Inkompetenz der deutschen Sicherheitsbehörden bei Aufklärung und Aufarbeitung beispielsweise des NSU Komplexes. Dem unverhältnismäßig schwachen Interesse der Sicherheitsbehörden für Rechtsextremismus- und Radikalismus und im Gegensatz dazu der heftigen Reaktion auf die 'linksradikalen' G20 Proteste des vergangenen Jahres, zeichnet sich ein Zukunftsbild, das ebenso bedeutsame Fragen aufwirft.

Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch bezeichnet unsere Zeit und unser politisches System als postdemokratisch. Konsequenz der Postdemokratie ist eine Politik, die die Menschen nicht mehr vertritt, die soziale Spaltung und Repräsentationsdefizite aufkommen lässt und die - mittlerweile auch in der 'ersten Welt' - es nicht mehr länger vermag die negativen Konsequenzen der globalen Neoliberalisierung abzufedern. Soziale Polarisierung und Kämpfe zu verhindern.

In dieser Situation wird es für die Zivilgesellschaft immer wichtiger ihre Interessen und Präferenzen ausdrücken zu können. Im Zweifel auch gegen die Politik, die sie nicht mehr repräsentiert.

Politik und Rechtsstaatlichkeit in Deutschland stehen somit auf dem Prüfstand. Die fortgesetzte Räumung des Hambacher Forsts ist ein weiteres Beispiel für diese Entwicklung, was die Frage aufwirft, ob sich langsam ein Muster abzeichnet?

Heute geht es also vor allem - aber eben nicht nur - um den Hambacher Forst, der ein Symbol für den Kampf gegen den Klimawandel und die Braunkohle geworden ist.

Es geht letztlich darum, wie unsere Demokratie und die politische Teilhabe in dieser in einer postdemokratischen Zeit ausgestaltet sein soll.

Darum, ob wir als Zivilgesellschaft tatsächlich noch Souverän der Politik sind oder überhaupt noch sein können.

Was Mut macht, ist die Machtdemonstration durch die Aktivistinnen, ihre Sympathisantinnen und die Anwohnerinnen denen gegenüber die lokale Politik sich eher lächerlich macht. Gerade die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung und ihrer Energiewende steht hier auf dem Spiel, so dass es merkwürdig erscheint, dass die Bundespolitik sich dermaßen zurückhält. Fragen über Fragen.

Für den Hambi ist die dringlichste Frage aktuell, ob er selbst, seine Bäume und die Symbolträchtigkeit des Protests für den Kampf gegen den Klimawandel in Deutschland nunmehr 'Todgeweihte' sind.

Diese Frage wirft auch eine Ausstellung des Fotografen Marcel Claßen über die Besetzung des Hambacher Forsts und den Kampf der KlimaaktivistInnen auf, welche noch bis zum 30. September in Köln besucht werden kann.

Sie geht letztlich unsere ganze Gesellschaft an. -

- - - - - - - - -

Für ausführlichere Information, siehe:

https://www1.wdr.de/nachrichten/rheinland/hambacher-forst-178.html

https://www.fehmarn24.de/politik/hambacher-forst-lage-eskaliert-demonstranten-werfen-molotowcocktails-auf-polizei-zr-10223551.html

https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/tagesgespraech/tg-sechster-september-102~_cid-1332056~_compage-8.html

https://www.aachener-nachrichten.de/nrw-region/entscheidung-um-rodungen-im-hambacher-forst-ende-september_aid-32700771

http://forschungsjournal.de/jahrgaenge/2018heft1-2 Colin

Crouch, 2008 Postdemokratie.

heute Morgen:

https://www1.wdr.de/nachrichten/rheinland/hambacher-forst-192.html

Ausstellung 'die Todgeweihten':

https://www.ardmediathek.de/tv/Westart/Foto- Ausstellung-Die-Todgeweihten-Ham/WDR-Fernsehen/Video?bcastId=45518828&documentId=55927356

https://www1.wdr.de/fernsehen/west-art/martin-classen-100.html

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Frédéric Bravo Paredes

Frédéric Bravo Paredes studierte in Köln und Bonn Sozialpsychologie, Soziologie und Politikwissenschaft.

Avatar

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden