Keine Vision mit der Union?

- Na gut. Dann eben weiter Tiki Taka, Entertainment und Dekonstruktion der Sozialdemokratie.

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Missverstandenes GroKo Tiki- Taka

Der ein oder andere wird sich über die Wortwahl „Tiki taka“ im Kontext von Politik wundern und wohl eher an die feinen Techniker von Barca oder Real Madrid denken.

Doch lässt sich dieser Tage ein bundespolitisches Phänomen beobachten, das durchaus – mich zumindest – an diese Art Fussball zu spielen erinnert; nicht unbedingt an die an Perfektion reichende Manier der Barca- Art unter Pep Guardiola, eher an die limitierten Nachahmungsversuche anderer Teams.

Die Basis für dieses Klein- klein- Spiel des Fussballs, sind verschiedene Dinge. Ein taktisches und technisches Niveau der Mannschaft, das Tiki- taka erst ermöglicht. Eine gute Balance zwischen der Defensive und der Offensive mit dem Transmissionsriemen eines überragenden Mittelfeldes in der Mannschaft und vor allem Spieler, die die Veranlagung mitbringen dieses technische anspruchsvolle Spiel sinnvoll aufziehen zu können ohne sich in egoistischem Dribbling festzulaufen oder laufend Ballverluste zu produzieren.

Es ist eine Spielweise für Fortgeschrittene, die erst auf einem bestimmten Level ihre Sinnhaftigkeit entfalten kann – Barcastyle eben.

Was hat dies nun mit der Bundespolitik unserer Tage zu tun?

Auch die verantwortlichen Politiker der GroKo 2.0 sowie nun anscheinend ebenso diejenigen der GroKo 3.0 verlagerten ihren Fokus auf Tiki- taka, aufs Klein- klein Spiel in der Politik.

Von Seiten der Union ist dies allzu verständlich, hat sie doch keine wirkliche Vision oder mitreißende Erzählung für die Zukunft Deutschlands anzubieten. Bestenfalls Stärkung der sozialen Marktwirtschaft und Digitalisierung ist auch irgendwie wichtig.

Gut, dass man mit letzterem Thema einen Leuchtturm der Kompetenz beauftragte: Alexander Dobrindt und die Dekonstruktion des Zusatzes „sozial“ der sozialen Marktwirtschaft seit einigen Legislaturen höchst selbst betreibt.

Die eigentliche Botschaft ist, wir merkeln uns noch so circa zwei Jahre durch und dann haben wir einen Merkel- Nachfolger. Also erstmal Weiter so, soweit uns die SPD lässt.

Die spannende innerparteiliche Auseinandersetzung wird mitten in die kommende Legislatur verlagert, was dazu führt, dass die Union momentan im Kontrast zur SPD – keine große Herausforderung – relativ geeint rüberkommt.

Auch wenn nach der Ressortverteilung verständlicherweise kritische Stimmen aus den eigenen Reihen lauter werden.

Ganz anders die SPD.

Angetreten mit dem Auftrag Wahlsieg und mit der Hoffnung, sich aus dem ungeliebten Unions- Klammergriff namens Große Koalition zu lösen, war die Stoßrichtung ganz klar: Emanzipation von der Union. Zurück zu sozialdemokratischer Politik.

Aktuelle Herausforderungen und Themen bietet Deutschland genug.

Soziale Gerechtigkeit wurde der Aufhänger des Wahlkampfes und dies durchaus berechtigt, betrachtet man die Entwicklung der sozialen Ungleichheit in Deutschland.

Der Anspruch der SPD war wirklich Etwas für die Menschen, und zwar für alle und nicht nur für verschiedene Gruppen, zu erreichen.

Konsequent zu Ende gedacht würde dies eine Abkehr vom 'schlanken Staat' und Investitionen in die deutsche Gesellschaft, in die Zukunft bedeuten.

Digitalisierung, Infrastruktur, Zwei-Klassen-Medizin, Pflege, Investitionen in die Bildung, verbesserter Zugang zu Bildung, Prekariat, Inklusion, Auflösung der sachgrundlosen Befristungen, ein gerechteres Steuersystem, Klimawandel und Klimaziele Deutschlands, Gesundheit oder Förderung der Integration, die auch Einfluss auf die fortlaufende gesellschaftliche Polarisierung und Instrumentalisierung von Ressentiments hat, sind nur einige Themen, die immense Bedeutung für die Zukunft der deutschen Gesellschaft haben.

Dabei ist es keine Auswahl die nach dem Prinzip 'Entweder, Oder' funktioniert, vielmehr stellen sich all diese Herausforderungen zugleich.

Wie, das hat uns Niemand gesagt? Ist aber so.

Es benötigt also eine integrative, umfassende Strategie, eine Vision – wie es heutzutage gerne genannt wird – für Deutschland, und es ist äußerst fraglich, inwiefern diese Herausforderungen auf sozialdemokratische Weise angegangen werden können, wenn man die Grundausrichtung, wie z.B. 'schlanker Staat' oder 'Schwarze Null', die mitunter für die aktuelle Situation zur Verantwortung gezogen werden müssen, nicht korrigiert.

Also buchstäblich die Taktik ändert und an die 'neuen' Entwicklungen anpasst.

Da dies mit der Union allerdings nicht zu machen ist, bleibt auch hier nur die Wahl:

Dann weiter Tiki- Taka, ein bisschen an den negativen Symptomen der bisherigen Politik rumwurschteln und dies als Verhandlungserfolg verkaufen.

Entertainment: täglich grüßt der Maddin

Dieses 'Verkaufen' oder auch die – so fühlt es sich zumindest an - Marketing- Kampagne, die in den letzten Wochen angelaufen ist, war und ist omnipräsent.

Seit dem Eintritt in die Koalitionsverhandlungen zur GroKo 3.0 veränderte sich die öffentliche Wahrnehmung der SPD von dem konstruierten Bild 'der Braut, die sich nicht traut' hin zu der Partei, die heroisch verhandelt und nicht locker lässt, um der Union das größtmögliche Zugeständnis abzuringen.

Für die SPD Mitglieder, die momentan gleichgesetzt werden mit der deutschen Gesellschaft.

Diese 460 000 'privilegierten' Menschen entscheiden ja letztendlich auch über die Frage, ob das Land diese Regierung bekommt.

Seit Jahresbeginn bis zum 'Stichtag', dem sechsten Februar, sind knapp 24 000 neue Mitglieder eingetreten, die allein durch den Eintritt in die Partei, die Berechtigung erlangen, an dieser Wahlentscheidung zu partizipieren.

Im Kontrast dazu dürfen die knapp 425 000 CDU und 140 000 CSU Mitglieder nicht über den Koalitionsvertrag abstimmen.

Die stellvertretende CDU- Vorsitzende Julia Klöckner begrüßt dies in einem Interview mit dem Deutschlandfunk, da man es den Mitgliedern doch nicht zumuten könne, eine derartige Entscheidung treffen zu müssen, da sie ja nicht über alle relevanten Informationen verfügten. Außerdem würden diese Mitglieder die Verantwortung an die gewählten Vertreter der CDU delegieren, die in ihrem Sinne handelten.

Das Verständnis der CDU Basis, ein Wort, das sie – freie Interpretation - nur in Anführungszeichen gebraucht, scheint ein sehr abstraktes zu sein, das sie gleichsetzt mit 'den Bürgern'.

Dieses Verständnis der repräsentativen Vertretung sowie das zu Grunde liegende Demokratieverständnis der Union erscheinen im Kontrast zu der – momentan auch notgedrungenen – Wertschätzung der SPD gegenüber ihrer 'Basis' eher antiquiert und überholt.

Doch hat dies nicht nur Konsequenzen für die öffentliche Wahrnehmung der Union sondern vielmehr sehr greifbare und deutlicher zu Tage tretende Konsequenzen für das gestalterische Potenzial der Union in der GroKo 3.0.

Während die SPD durch den Rückgriff auf ihre 'Basis' und den finalen Mitgliederentscheid hinsichtlich ihrer Verhandlungsmacht ein wirkungsmächtiges Durchsetzungsinstrument in der Hand hielt, scheint es, als hätte die CDU nicht viel entgegen zu setzen gehabt.

Ihr stärkstes Faustpfand war die konsequente Festlegung auf eine Regierungsmehrheit. Nachdem Jamaika gescheitert ist, war dieses Ziel nur noch mit der SPD erreichbar. Hatte man die SPD in die GroKo- Verhandlungen manövriert, verschob sich das Kräfteverhältnis, spätestens seit dem SPD Sonderparteitag des 21.01.18, zu Gunsten der Sozialdemokratie. Zumindest in dem Falle, dass man als Union selber kein adäquates Druckmittel zur Hand hatte, um der SPD begegnen zu können.

Die anstehende bayerische Landtagswahl und die angeschlagene Lage der CSU waren solch ein Druckmittel für die CSU.

Und somit äußert sich diese verhandlungstechnische Gemengelage auch eindeutig in dem Koalitionsergebnis.

Es stellt sich allerdings abschließend die Frage – Fragen nach dem Demokratieverständnis und demokratischer Teilhabe der CDU Mitglieder ausblendend -, ob es aus strategischer Sicht für die Union nicht sinnvoller wäre, ebenfalls über solche innerparteilichen plebiszitären Elemente nachzudenken und ihre Verhandlungsposition – zumindest nach Außen - zu verbessern.

Ob die Unionsmitglieder sich in diesem Falle ernsthafter mit den politischen Inhalten ihrer Partei und den tatsächlichen Konsequenzen der umgesetzten Politik für ihre eigenen Interessen auseinandersetzen würden, wäre eine andere Frage, deren Konsequenzen man hinsichtlich des Demokratieverständnisses einerseits nur begrüßen müsste, die andererseits eine derartige Umsetzung von Parteiseite aber wohl ausschließen dürften.

Das angesprochene Koalitionsergebnis führt uns zurück zum Ausgangspunkt, zum Entertainment.

Das knappe Ergebnis des SPD Sonderparteitages machte von vorneherein klar, dass die SPD ein starkes Verhandlungsergebnis hinsichtlich des Koalitionsvertrages benötigte, um die GroKo 3.0 den Parteimitgliedern schmackhaft zu machen.

Vor allem die Jusos und ihre #NoGroKo Kampagneure stellen eine ernsthafte Bedrohung für die Regierungsbildung dar.

Die SPD- Spitze brauchte einen Verhandlungssieg.

Showdown in Berlin.

Während die Verhandlungswoche fortschritt, klärte sich über dem politischen Berlin peu a peu der Nebel auf und machte den Blick frei auf die SPD- Delegationen, die der Union heroisch das Glück des Volkes Stück für Stück aus der Hüfte verhandelten.

Eingerahmt von merkelschen Lobgesängen über die Volkeshoffnung nach einer stabilen Regierung und bayerischem Jubelrufen von einer Obergrenze und dem abgeschafften Familiennachzug.

Nach Abschluss der Koalitionsverhandlungen war die Botschaft klar: Die SPD hatte es tatsächlich geschafft und war der strahlende Sieger.

Der Noch- Parteivorsitzende Schulz, sich bei der Kanzlerin und dem angehenden Superminister Seehofer entschuldigend, stellte fest, dass dieser Koalitionsvertrag ganz eindeutig sozialdemokratische Handschrift tragen würde.

Die Ironie beiseite lassend, muss man feststellen, dass dieser Koalitionsvertrag aus SPD- Perspektive tatsächlich besser verhandelt wurde, als angenommen werden durfte.

Einige Punktsiege gehen an die Union, auch wenn es dieser eher darum ging Veränderungen zu verhindern, wie beispielsweise die Einführung eines deutschen Lobbyregisters, die Abschwächung der Beschränkungen bei Rüstungsexporten oder eben die – de facto – Abschaffung des Anspruchs auf Familiennachzug subsidiär geschützter Menschen in Deutschland.

Auch die Ressortverteilung der Ministerien kann, hinsichtlich des Wahlergebnisses der BTW17, durchaus als Verhandlungssieg für die SPD gesehen werden und wird medienwirksam genau so dargestellt.

Somit war Alles bereitet für den letzten Akt der Show, den Mitgliederentscheid.

Wäre da nicht die Personalie Schulz.

Während verhandlungstechnisch im Großen und Ganzen also alles für die SPD lief und die als Ziel ausgegebene inhaltliche Auseinandersetzung startete, überschattete trotz allem die Personalfrage nach Martin Schulz die Koalitionsverhandlungen.

Würde er noch einmal wortbrüchig werden und doch in ein Kabinett Merkel eintreten?

Retrospektiv betrachtet hätte Martin Schulz seine Ankündigung nicht in die Regierung einzutreten konsequent bestätigen und auch umsetzen müssen. Er hätte sich selbst und dem Amt des SPD- Parteivorsitzenden etwas Authentizität bewahrt und der Partei die Chance gegeben, die Deutungshoheit in der Debatte zu behalten.

Als Parteivorsitzender der Partei die Möglichkeit zur inhaltlichen Auseinandersetzung gegeben und selber, mit dem Aufwind des Verhandlungserfolges, seine GroKo Werbetournee starten können.

Alles im Rahmes seiner Verantwortung, die Partei neu aufzustellen.

Durch das Hin und Her zwischen der Verpflichtung als Parteivorsitzender, seinem gegebenem Wort und den neuerlichen Ambitionen als Außenminister wurde diese Ausgangssituation verschenkt und Chaos hat erneut Einzug erhalten.

Das Ergebnis sind ein deinstallierter Noch- Parteivorsitzender, der seine Ambitionen auf das Außenamt begraben hat, ein beliebter kommissarischer Noch- Außenminister, dessen nachvollziehbare Reaktion auf dieses Theater nun dazu führen könnten, dass er sein Amt trotzdem nicht behalten kann, eine für die Partei immer wichtiger werdende Noch- Fraktionsvorsitzende und vielleicht- bald- Parteivorsitzende, die es schwer haben wird, nicht ebenfalls in den Abgesang dieses Theaters hineingezogen zu werden und letztendlich eine Partei, die sich erneut in Personaldebatten wiederfindet, obwohl Wichtigeres anstünde.

Es ist sicherlich zu einfach und bequem den schwarzen Peter alleine Martin Schulz zuzuschieben, da die Partei- Spitze seine Performanz bis zu einem gewissen Punkt mitgetragen hat.

Somit ist man mitverantwortlich dafür, ohne Not eine Ausgangssituation, die man sich sicherlich kaum besser erträumt hätte, herzuschenken bevor die inhaltliche Auseinandersetzung überhaupt in die heiße Phase eingetreten ist.

Eines jedoch ist bei dieser Regierungsbildung '17 gewiss: Entertainment.

Dekonstruktion der Sozialdemokratie

Der Sonderparteitag der SPD hat drei klare Hauptbedingungen für die Verhandlungen definiert.

Der Familiennachzug sollte wieder eingesetzt werden, die Abschaffung der sachgrundlosen Befristungen sowie die Bürgerversicherung oder zumindest den Anfang des Ausstiegs aus der Zwei-Klassen-Medizin erreicht werden.

Somit macht es für die inhaltliche Auseinandersetzung Sinn, in einem ersten Schritt auf diese Themen zu fokussieren.

Nüchtern betrachtet muss man feststellen, dass der Familiennachzug für subsidiär Geschützte sozusagen abgeschafft wurde. Ab August 2018 gibt es Kontingente von 1000 Menschen pro Monat sowie eine bereits bestehende Härtefallregelung, deren Anforderungen so hoch sind, dass sie bisher kaum zur Anwendung kamen.

Hinsichtlich des Zeitdrucks bei dieser Entscheidung und der Aussicht auf erneute Verlängerung der Aussetzung des Familiennachzuges muss man feststellen, dass 1000 Menschen pro Monat mehr sind als keine Menschen. Vor dem Hintergrund der erwarteten positiven Effekte auf die Integration der zahlreichen Familienangehörigen in Deutschland ist diese Regelung wohl eher ein Tropfen auf den heißen Stein, um von der menschlichen Dimension dieser Entscheidung gar nicht erst zu sprechen.

Bei der Abschaffung von sachgrundlosen Befristungen ist die SPD von ihrer eigentlichen Forderung abgerückt und hat einen Detailkompromiss geschlossen. Die Dauer von Befristungen wurde von 24 auf 18 Monate eingeschränkt, Kettenbefristungen 'abgeschafft' auf nur noch 3 mögliche Verlängerungen und weitere Beschränkungen, die sich an der Größe des Unternehmens bemessen, vereinbart.

Im Vergleich stellen die Neuerungen sicherlich eine Verbesserung dar, eine Kurskorrektur hin zu mehr sozialer Sicherheit der Arbeitnehmer sind sie sicherlich nicht.

Bei der Frage der Bürgerversicherung oder zumindest des erkennbaren Beginn des Ausstieges aus der Zwei-Klassen-Medizin konnten die Koalitionäre sich nicht einigen. Die Frage nach der Angleichung der Ärztehonorare wurde in eine Kommission delegiert, wird sich somit in die kommende Legislatur vertagen. Ob den Empfehlungen der Kommission entsprochen wird, entscheidet die Bundesregierung dann 2020. Die Private Krankenversicherung, und mit ihr ihre Implikationen, kann sich somit sicher sein, dass sie auch diese GroKo überleben wird.

Von Bürgerversicherung oder dem Ausstieg aus der Zwei-Klassen-Medizin kann nicht die Rede sein.

Negative Effekte durch Neuregelung von Detailfragen abfedern, Klein- klein anstatt Kurskorrektur zu einem gerechterem Gesundheitssystem.

Trotz der offen zur Schau getragenen Verhandlungserfolg und Siegerpose klingt diese Kurzbilanz ernüchternd.

Nun kann man entgegenhalten, dass die GroKo viel Geld in die Hand nehmen will, um Deutschlands Herausforderungen anzugehen.

Die teuersten Posten sind die Digitalisierung, für die 10- 12 Milliarden € eingeplant sind, die Bildung mit 11 Milliarden €, Soziales mit einer zweistelligen Milliardensumme sowie Integration mit 8 Milliarden €. Hier wurde sicherlich einiges für verschiedene Bevölkerungsgruppen erreicht.

Dies klingt erst einmal gut.

Die Summe von Partikularinteressen ergibt allerdings noch keine Zukunftsvision für ein Land.

Und dies ist der springende Punkt.

Schaut man sich den Koalitionsvertrag in seiner Gänze an, gerät man bald an den Punkt, an dem man sich nach Orientierung sehnt, nach einer einenden Klammer, die die verschiedenen Einzelteile zu einem kohärenten, stimmigen Gesamtbild zusammenfügt.

Eine übergeordnete Vision, die das Ganze zusammenhält und Ordnung bringt in die lose zusammengefügten Widersprüche.

Ein simples Beispiel um die Widersprüchlichkeit zu verdeutlichen.

In einigen Bereichen, wie Soziales, Außenpolitik oder dem Bereich Steuern und Banken, in welchen auch die Abschaffung des Soli fällt, sind die voraussichtlichen Ausgaben nicht genau bezifferbar. Dies liegt unter anderem daran, dass die Vereinbarungen nicht über Absichtserklärungen hinausgehen oder von Kontextfaktoren abhängig sind, die sich schwer kalkulieren lassen. Im Bereich der Bildung sind 11 Milliarden veranschlagt, es ist jedoch absehbar, dass diese Summe allenfalls der Anfang sein kann. Somit deutet sich bereits jetzt an, dass die 46 Milliarden €, die für Mehrausgaben bereit standen, bei Weitem nicht ausreichen werden, um die Pläne tatsächlich umzusetzen.

Die anfallenden Mehrausgaben sollen über steigende Steuereinnahmen finanziert werden; Dank an die gute Konjunktur.

Hier kommt für die SPD allerdings der Knackpunkt. Ihr Kernthema soziale Gerechtigkeit impliziert eine gerechtere Besteuerung. Somit sollten diejenigen, die von der aktuellen gesellschaftlichen Situation in einem höheren Maße profitieren als andere, sich verhältnismäßig höher an den Ausgaben der Solidargemeinschaft beteiligen. Hier geht es um Besteuerung von internationalen Unternehmen, aber auch um hohe Einkommen und Vermögen. Die höhere Besteuerung der 'Reichen', ein Kernanliegen der SPD und Symbol für eine sozialere Umverteilungspolitik, musste die SPD aufgeben. Und selbst die Umverteilung durch Steuerpolitik wäre lediglich ein Bekämpfen der Symptome und keine grundlegende Veränderung der Ursachen für soziale Ungleichheit in Deutschland, doch auch dies bleibt aus.

Diese Einsicht, vor dem Kontext des Bekenntnisses zur schwarzen Null der GroKo 3.0, wirft doch einige Fragen zur verbleibenden sozialdemokratischen Substanz auf, spätestens wenn es darum geht, wer im Endeffekt für die Regierungsprojekte zahlen soll.

Wenn es hinsichtlich der Themenumsetzung also eher gemischte Gefühle gibt, sollte zumindest die Ministerienverteilung frohen Mut machen.

Das Prestigeprojekt der GroKo 3.0 ist das Europakapitel des Koalitionsvertrages. Dies ist sicherlich ein Erfolg der Schulz- SPD und hat aufgrund seiner Aktualität und Spillover- Effekte auf andere Bereiche vollkommen berechtigt diese Position inne.

Durch den erfolgreichen Griff nach dem Finanzministerium und der Verantwortung für das Auswärtige Amt sieht sich die SPD hinsichtlich Europa in einer komfortablen Lage. Außenministerium und Finanzministerium können einerseits Pläne ausarbeiten und die Finanzierung gleich noch mitmachen.

Und wenn es um Europa, um die EU geht, dann wird es um viel Geld gehen.

Der bevorstehende Brexit wird eine spürbare Haushaltslücke im EU- Budget hinterlassen, die aufgefangen werden muss. Deutschland profitiert als die stärkste Volkswirtschaft immens von der EU ..

Das Europakapitel enthält Absichtserklärungen zu Gunsten von mehr Investitionen in die Stabilisierung und Konvergenz der Wirtschaft, in Maßnahmen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und weiterer Strukturreformen. Konkreter wird es selten.

Somit lässt sich nicht genau beziffern, um wie viel Geld es am Ende gehen wird, was aufgrund der Sache verständlich ist. Allerdings entsteht der berechtigte Eindruck, dass es mehr sein dürfte, als momentan eingestanden wird.

Hier versäumt man es zudem, durch mehr Transparenz und eine realistischere Darstellung und vor allem Kommunikation, die Bevölkerung mitzunehmen und produziert mittelfristig eine Situation, in der die EU einseitig als Transferunion dargestellt werden kann – und von gewissen Akteuren dargestellt werden wird -, in welcher am Ende immer Deutschland finanziell draufzahlt. Das Lied ist bekannt.

Generell lässt sich feststellen, dass das Prestigeprojekt Europa letztendlich wenig Belastbares anbietet, um die SPD- Ankündigung, den Sparkurs der EU zu beenden, mit Inhalt zu unterfüttern.

Auch als Antwort auf Macrons Vorstöße bleiben die Vorschläge eher fad. Mehr Europa ja, da geht man mit Macron prinzipiell noch überein, eine Demokratisierung Europas, die Macron auch explizit fordert, ist nicht angedacht. Womit man eine Situation konserviert, in der man, aufgrund der limitierten demokratischen Partizipations- und Oppositionsmöglichkeiten auf EU- Ebene, seine Opposition gegenüber der aktuellen Struktur der EU nur durch Ablehnung der EU als Ganzes ausdrücken kann.

Die Konsequenzen sieht man allerorts in Europas Parlamenten: EU- kritische bis EU- ablehnende Populismen beider Couleur in Fraktionsstärke.

Ob die vermeintlich günstige Konstellation bezüglich der SPD- Ministerien tatsächlich geeignet ist, den Sparkurs der EU abzulösen und die angekündigten Verbesserungen für die EU anzustoßen ist somit äußerst fraglich. Vor allem das wiederholt abgegebene Bekenntnis zur schwarzen Null des voraussichtlichen SPD Finanzministers Olaf Scholz unterstreicht diese Zweifel noch einmal, denn woher soll das Geld kommen?

Die Achillesferse der Sozialdemokratie

Was auf der einen Seite als Sieg für die SPD und als große gestalterische Chance für sozialdemokratische Politik verkauft wird, könnte sich letztendlich als Achillesferse der Sozialdemokratie herausstellen: Das Finanzministerium.

Durch die in Eisen gegossene schwarze Null deutlich eingeschränkt, wird es für Finanzminister Scholz eine Herkulesaufgabe werden die Bundesfinanzen so auszubalancieren, das wirklich alle großen Projekte finanziert werden können. Oder, wie in der aktuellen GroKo, werden Projekte nicht umgesetzt, weil kein Geld da ist, oder Geld zur Verfügung gestellt, das dann nicht abrufbar ist?

Durch den kategorischen Ausschluss von der höheren Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen oder einer generellen Wende in der Steuerpolitik, macht es den Eindruck als hätte die SPD mit dem Finanzministerium eine Waffe erhalten, die nach genauerer Inspektion allerdings über keine Munition verfügt.

Folglich kann sich auch unter SPD- Verantwortung nichts Grundlegendes am Verständnis des sparenden Staates verändern, mit einer bedeutenden Ausnahme: Von jetzt an kann man den schwarzen Peter nicht mehr Wolfgang Schäuble oder dem CDU- geführten Finanzministerium zuschieben und lauthals über die Sparpolitik schimpfen, wie die SPD es gerne tat. Bevorzugt mit dem berechtigtem Hinweis, wann es eine bessere Zeit für Investitionen gegeben habe, angesichts der Zinspolitik der EZB und dem Investitionsstau in GroKo- Deutschland.

Die Zinspolitik der EZB ist nach wie vor dieselbe, doch von nun an, ist die SPD selber der schwarze Peter und die Union darf meckern, auch wenn sie darüber ganz zufrieden sein wird.

Dies waren einige Beispiele der Widersprüchlichkeiten des Koalitionsvertrages aus Perspektive der SPD. Die Darstellung ließe sich problemlos fortsetzen.

Dies führt zu der berechtigten Frage, was ist die eigentliche Adresse dieses Koalitionsvertrages, was ist das Ziel?

Ist es ein Koalitionsvertrag und eine Regierungskonzeption GroKo 3.0, die die SPD- Mitglieder überzeugen soll, somit der wahre Adressat der SPD- Mitgliederentscheid?

Oder ist es tatsächlich ein Koalitionsvertrag, der die Weichen für Deutschlands Zukunft stellen soll und kann?

Die Grenzen zwischen beidem verschwimmen in den heutigen Tagen leicht und das eine muss das andere noch nicht ausschließen.

Doch ist dieser Unterschied entscheidend.

Entscheidend für die SPD einerseits, aber auch entscheidend für die Wahrung der Chance auf eine progressive und soziale Machtoption in Deutschland, die nur über die linken und grünen Kräfte gelingen kann und dafür eine sozialdemokratische Volkspartei braucht, die es 2018 noch gibt.

Worüber reden wir eigentlich?

Und hier holen einen die historischen Kontextfaktoren wieder ein.

Die SPD gefühlt am Tiefpunkt, nachdem sie eine historische Niederlage erlitten hat, kann sie nur der Gang in die Opposition retten. Diese Analyse war konsensfähig in der Partei, die sich aufmachte mit Erleichterung die Rolle der Oppositionsführerin anzunehmen und den notwendigen Neuaufbau der Partei anzugehen. Wieder eine Alternative anbieten, die diesen Namen auch verdient.

Diese Situation hat sich nicht verändert, die Konfliktlinien innerhalb der Partei haben sich wohl eher vermehrt. Dies ist per se nichts Schlechtes, zeugt es doch von interner Auseinandersetzung und steht für den streitbaren Charakter der Sozialdemokratie.

Doch was immer deutlicher wird, ist, dass es an einem Konzept fehlt, wie man diese beiden Herausforderungen, Neustrukturierung der Partei und Regierungsbeteiligung in einer GroKo 3.0 miteinander vereinen will.

Ist dies überhaupt möglich, wenn man einerseits zur Neustrukturierung der Partei ein Zurück zu sozialdemokratischer Politik, zu einem eigenem Profil forciert und auf der anderen Seite sich an die Union bindet und seinen Handlungsspielraum bedeutend einschränkt. Sich an der Politik orientieren muss von der man sich emanzipieren will?

Zudem wird die Möglichkeit der Neuausrichtung hinsichtlich des Personals durch Regierungsposten deutlich limitiert und eingeschränkt.

Aus systemtheoretischer Perspektive könnte man zu dem Schluß gelangen, dass dies zwei unterschiedliche Subsysteme sind, die nach unterschiedlichen Dynamiken funktionieren, die miteinander nicht vereinbar sind.

Was in der aktuellen Debatte häufig vergessen wird, sind die Nutznießer der bisherigen GroKo: Die AfD.

Scheitert diese GroKo 3.0 an den ihr zu Grunde liegenden Widersprüchlichkeiten und scheitert die SPD an ihrem Erneuerungsprozess, stellt sich die Frage wie der fortschreitende Niedergang der Volksparteien verhindert werden soll.

Dies ist kein Plädoyer für den Erhalt der Volksparteien als ein Selbstzweck, sondern die Erinnerung an die Bedeutung starker Volksparteien auf beiden Seiten des politischen Spektrums für die Demokratie in Deutschland. Und auch in der Union, vor allem innerhalb der CDU, bröckelt die Einigkeit hinsichtlich der Zukunftsaussichten in diesen bedeutenden Tagen.

Die seit zwei Jahrzehnten anhaltende Dekonstruktion der SPD und ihr sich (vermeintlich?) ankündigender Abschied von der bundespolitischen großen Bühne der Volksparteien scheinen partei- und bundesrepublikübergreifender Konsens geworden zu sein. Doch ist es verfrüht diese Entwicklung bereits als fait accompli hinzustellen. Der Mitgliederentscheid und eine sich anschließende nachhaltige Neuausrichtung der Partei, die sich um Inhalte formiert und der es gelingt die Tendenz der Personenfixierung innerhalb der Politik zu durchbrechen, können der Weg sein diesen tiefen Fall umzukehren.

Gelingt es nicht die sich verschärfende gesellschaftliche Polarisierung und die steigende soziale Ungleichheit mit einem ganzheitlichen politischen Angebot nachhaltig umzukehren, hat die letzte Bundestagswahl gezeigt, wohin die Unzufriedenen abwandern.

Der Rechtsruck der letzten 5 Jahre hat bereits bedeutenden Einfluss auf verschiedenste gesellschaftliche Sphären gewonnen.

Gesellschaftliche Gruppen werden gegeneinander ausgespielt und instrumentalisiert und populistisches Gebaren hat Einzug in Politik, (soziale) Medien und Kommunikation erhalten.

Es ist viel von Verantwortung gesprochen worden, hier müssen in erster Linie nun die verantwortlichen Parteien verantwortungsvoll Verantwortung übernehmen.

Die AfD, die aufgrund der aktuellen Entwicklungen feiern dürfte, hat sich in Person von Herrn Gauland bereits zu Wort gemeldet und stellt fest, dass die CDU sich inhaltlich entleert habe und nur noch eine leere Hülle darstellen würde.

Eine der seltenen zutreffenden AfD Analysen.

Die dargestellten Entwicklungen sind die Interpretation des Autors und somit kein Automatismus, der unbedingt eintreten wird. Doch fehlt es an Indizien, die auf eine andere Entwicklung schließen lassen.

Als SPD- Mitglied dieser Tage findet man sich also in einer Lage wieder, in der das 'Nein' zu der GroKo 3.0 deutlich schwerer geworden ist. Kann man es Deutschland zumuten diese Koalition abzulehnen mit den sich ankündigenden Konsequenzen? Nun, wo schon so lange und so viel verhandelt wurde?

Dieser Argumentationsstrang wird dieser Tage häufig bedient. Pfadabhängigkeit also. Und aus Perspektive der Unterhändler, die in ihrem Bereich gefühlt wirklich Verbesserungen erreicht haben, kann man das nachvollziehen.

Aber eben nur Tiki- taka, Klein- klein.

Somit werden die parteiinternen Appelle an die Pfadabhängigkeit, daran die Verhandlungen nun doch bitte nicht umsonst gewesen sein zu lassen, zum einen Teil des Problems.

Den anderen Teil stellen diese Vertreter der Sozialdemokratie wie Kurt Beck dar, die sich hinstellen und mit Überzeugung den konstruierten Automatismus runterbeten: Keine GroKo = Neuwahlen.

Wobei dies, mit Blick auf die aktuelle Lage der Union, doch zumindest sehr fragwürdig ist.

An diesem hypothetischen Punkt müsste die CDU Verantwortung beweisen und - aufgrund der drohenden Konsequenzen von Neuwahlen für die Union selber sowie für die deutsche Parteiendemokratie - die einzige verantwortliche Entscheidung, zumindest für 2 Jahre, treffen.

Minderheitsregierung.

Was sich in Deutschland dieser Tage abspielt, ist die neueste Version der Auseinandersetzung, die global wie auch in innenpolitischen Kontexten diese Zeit bestimmt:

Progressive Kräfte, die die 'naive'(?) Hoffnung auf eine gerechtere und sozialere Welt für die Menschen als ihr Leitmotiv setzen gegen gesellschaftliche Kräfte, die davon ausgehen, dass die aktuelle Form der kapitalistischen Organisation alternativlos geworden sei, das Ende der Geschichte eingetreten ist.

Deren Leitmotiv veränderte sich von Hoffnung in die Angst vor Verschlechterung des bereits Erreichten.

Dass dieses Erreichte die Existenz der Menschen aushöhlt, wird in dieser Lesart ignoriert. Oder die berechtigten Interessen der einen gesellschaftlichen Gruppe gegen die einer anderen gesellschaftlichen Gruppe in Konkurrenz setzt, ganz nach dem Motto entweder oder – There is no alternative (tina).

Die SPD muss sich entscheiden auf welcher Seite sie stehen möchte.

Auch der Rückgriff auf Tiki- taka im Fußball ist erst dann sinnvoll, wenn die Voraussetzungen dafür erfüllt sind und eine Mannschaft dies leisten kann.

Wie das Beispiel der spanischen Nationalmannschaft, die zeitweilige gebrochene Dominanz des FC Barcelona mit seinen Edeltechnikern und der Abgesang des guardiolschen Stils beim FC Bayern München deutlich machen, stellen die gegnerischen Mannschaften sich mit der Zeit auf die Spielweise ein. Man muss sich also weiter entwickeln, will man konkurrenzfähig bleiben.

Zur Erinnerung: Eine Große Koalition soll aufgrund ihrer Konsequenzen die Ausnahmelösung und nicht die Regel sein.

4 Jahre Klein- klein sollten reichen.

In dem Kleinen das Große sehen, rief die vielleicht- bald- Parteivorsitzende Nahles den Delegierten des Sonderparteitages zu.

20,5 % sind bereits klein.

Wie klein kann etwas werden, damit noch etwas Großes daraus entstehen kann, Frau Nahles?

#WOSPD2021?

(Das Etwas, Frau Nahles, wäre übrigens eine Vision für dieses Land, die über Symptombekämpfung hinausgeht, an die Ursachen und Wurzeln packt, und somit radikal wäre.)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Frédéric Bravo Paredes

Frédéric Bravo Paredes studierte in Köln und Bonn Sozialpsychologie, Soziologie und Politikwissenschaft.

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