Kniefall fürs Geschichtsbuch

ROTE MAGERSUCHT Als Kanzlerwahlverein verliert die SPD an wirtschaftspolitischem Gewicht

Es lohnt sich schon, den rot-grünen Koalitionsvertrag von 1998 mit den wirtschaftspolitischen Beschlüssen auf dem jüngsten SPD-Parteitag zu vergleichen. Eines der wichtigsten Zukunftsversprechen, das maßgeblich zum Sturz Kohls führte, hieß: Rückkehr zum Primat der Politik - Ausrichtung der Wirtschaft an der Triade Arbeit, Umwelt und Gerechtigkeit. Entscheidenden Einfluss auf den Verfall dieser Programmatik hatte der Rücktritt von Oskar Lafontaine. Was auch immer dessen Motive gewesen sein mögen, Anlass war die erkennbare Tendenz Schröders, seine Politik vorzugsweise mit den Interessen der Konzerne abzugleichen.

Nach dem Nürnberger Parteitag stellt sich nun mehr denn je die Frage, ob diese Politik überhaupt noch das Kürzel "sozial-demokratisch" verdient. Kennzeichnungen wie "links" sind endgültig getilgt worden. Nicht einmal mehr von "linker Angebotspolitik", mit der im Wahlkampf 1998 für die Politik der Neuen Mitte geworben wurde, ist mehr die Rede. Geblieben ist die Kapitulation vor einer ernsthaften Strategie, die eben auch der Wirtschaft Leistungen abverlangt. Schröders Ziel, die Zahl der Arbeitslosen auf 3,5 Millionen zu begrenzen, wurde kurzerhand gestrichen. Ein wirklicher Kampf gegen Erwerbslosigkeit ist nicht mehr erkennbar. Übrig bleiben Vorschläge zur Arbeitsmarktpolitik, die aber nicht auf steigende Nachfrage als Katalysator steigender Beschäftigung setzen. Es geht stattdessen um eine intensivere - wohl auch repressivere - "Betreuung" der Opfer des Arbeitsmarktes. Durch Niedriglohnjobs werden Erwerbslose ohne Perspektive in die Arbeitsmärkte integriert und - auf Zeit - alimentiert, während staatliche Instrumente zur nachfrageseitigen Stärkung des Wachstums abgelehnt werden.

Der endgültige Verzicht der SPD auf eine Politik, die wenigstens versucht, konjunkturelle Krisen zu kompensieren, verdient es wirklich, "historisch" genannt zu werden. Diese Wende muss in den Büchern zur Geschichte der SPD vor allem deshalb hervorgehoben werden, weil sich die Sozialdemokraten mit ihrer Abkehr von gestaltender Wirtschaftspolitik als ausgesprochen unmodern erweisen. Nach dem Zusammenbruch des ökonomischen Wunders USA und der Rückkehr von Krise und Arbeitslosigkeit vollzieht sich nicht nur in der Wirtschaftswissenschaft, sondern auch in der Politik der US-Administration ein Paradigmenwechsel: Mehr Konjunktursteuerung heißt die Devise.

Also müsste das Kabinett Schröder jetzt die konjunkturbedingten Defizite des Bundeshaushalts hinnehmen und an ein öffentliches Investitionsprogramm mit Schwerpunkt in den Gemeinden denken, anstatt, wie auf dem Nürnberger Parteitag geschehen, aggressiv dagegen zu polemisieren. Konjunkturprogramme gelten Hans Eichel als Indikator wirtschaftspolitischer Dümmlichkeit. Dieser Finanzminister übersieht, dass selbst eine so mächtige Partei wie die SPD gesamtwirtschaftliche Interdependenzen nicht außer Kraft setzen kann. Und Eichels Alternativen sind eher kümmerlich: Verzicht auf aktive Beschäftigungspolitik, Hinnahme der Arbeitslosigkeit als Schicksal, unverbindliches Gerede über öffentliche Investitionen. Damit lässt sich kaum verdecken, wie die Partei im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, Umweltkrise und soziale Ungerechtigkeit versagt.

Dieser Regress der Wirtschaftspolitik setzt sich in der Steuerpolitik fort. Vom Umbau des Steuersystems nach der Leistungsfähigkeit und damit nach dem Kriterium sozial gerechter Lastverteilung ist nicht mehr die Rede. Da hat die Vermögensteuer keine Chance. Noch auf dem vorangegangenen SPD-Parteitag wurde wenigstens ersatzweise die Anpassung der Einheitswerte für Immobilien an die Marktwerte bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer angekündigt. Nürnberg lehnte selbst diese Anpassung ab. Der Preis der SPD, den sie als Kanzlerverein zahlen muss, ist der Verlust einer eigenständigen wirtschaftspolitischen Kompetenz. Durch diesen Verzicht auf aktive Wirtschaftspolitik wird es für die Wähler immer schwieriger, die SPD als "kleineres Übel" zu akzeptieren.

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