Nach fast drei Jahren Stagnation ist die deutsche Wirtschaft in den letzten beiden Quartalen in die Rezession gerutscht, das heißt die Produktion schrumpft. Hinzu kommt, dass viele Unternehmen bereits jetzt auf breiter Front mit sinkenden Preisen kalkulieren müssen. Angesichts schwindender Gewinnerwartungen lässt die Bereitschaft zu investieren spürbar nach. Im Winter dürfte die Zahl der registrierten Arbeitslosen die Fünf-Millionen-Marke erreichen. Kommt nach Stagnation und Rezession am Ende sogar eine Deflation, also eine Abwärtsspirale sinkender Einkommen und fallender Preise, die wirtschaftspolitisch, wie das Beispiel Japan zeigt, kaum noch zu bewältigen ist?
Was läuft schief in Deutschland? Wie ist die große Vertrauenskrise zu erklären, die wir gegenwärtig erleben? Einen rasanten Absturz der Börsen und die ökonomischen Folgen internationaler Unsicherheit haben auch andere Nationen zu verkraften. In unserem Land aber gibt es zusätzlich einen Faktor der besonderen Art, den man wohl nur noch als Totalversagen der Politik bezeichnen kann. Weder Regierung noch Opposition formulieren ein tragfähiges Konzept. Noch schlimmer aber ist, dass beide, hilflos wie sie sind, auch noch den Eindruck von Handlungsfähigkeit suggerieren, obwohl sie immer weiter in wildem Aktionismus versinken. So wird die "Agenda 2010" als Beitrag zur Stabilisierung der Sozialsysteme verkauft, obwohl sie die Konjunktur noch weiter lähmt und damit neue Runden des Sozialabbaus programmiert. Dann wird zum wiederholten Mal das Rentensystem repariert, und trotzdem steigt mit jeder Reparatur die Unsicherheit. Und das permanente Drehen an den Stellschrauben der Sozialsysteme wird begleitet von einer chaotischen Steuerpolitik, die es kaum einem Unternehmen gestattet, Investitionen seriös zu kalkulieren.
Deutschland braucht endlich einen glaubwürdigen Befreiungsschlag. Das ökonomische Potenzial zur Lösung der Herausforderungen Arbeit, Umwelt und soziale Gerechtigkeit ist vorhanden. Schließlich lebt die Gesellschaft ökonomisch nicht über ihre Verhältnisse, sondern weit unterhalb ihrer Produktionsmöglichkeiten. Dabei muss der Staat in einer Rezession die Führungsrolle übernehmen, um das Hauptproblem - die unzureichende Nachfrage - zu lösen. Klagen über zu hohe Arbeitskosten und zu viel Regulierung würden schnell verschwinden, wenn endlich die Absatz- und Nachfrageerwartungen auf Expansion gestellt würden. Wer soll das zustande bringen, wenn nicht die außerhalb der wirtschaftlichen Konkurrenz stehende Politik?
Zu unterscheiden ist dabei zwischen Auslands- und Binnennachfrage. Der Exportmotor bringt derzeit wegen der lahmenden Weltwirtschaft und des steigenden Europreises keine Rettung. Um so mehr rückt die binnenwirtschaftliche Nachfrage in den Mittelpunkt, was auch die Bundesregierung allmählich zu begreifen scheint. Aber die geplanten Entlastungen bei der Einkommensteuer im Gesamtumfang von 21,5 Milliarden Euro sind wohl kaum das geeignete Mittel. Denn die Entlastungen konzentrieren sich wegen der Senkung des Spitzensteuersatzes von 48,5 Prozent auf 42 Prozent vor allem auf die Einkommensstarken. So beträgt der Steuerrückgang bei einem zu versteuernden Einkommen von 300.000 Euro für den Alleinstehenden monatlich 1.542 Euro. In diesen Einkommensschichten werden die Steuergeschenke jedoch nicht für mehr privaten Konsum eingesetzt, sondern fließen in die Vermögensbildung. Bei den unteren Einkommensschichten bleiben die Vorteile durch die Erhöhung des Grundfreibetrages auf 7.664 Euro und die Senkung des Eingangssteuersatzes von 19,9 auf 15 Prozent sehr moderat. Bei einem zu versteuernden Einkommen von 20.000 Euro reduziert sich die monatliche Entlastung auf 33 Euro. Wenn dann noch andere Steuervorteile - etwa die Sonderbehandlung von Zulagen bei Nachtschichten, bei Sonn- und Feiertragsarbeit - gestrichen werden, dann gehört beispielsweise die Krankenschwester zu den Verlierern dieser Politik.
Statt sich auf "Voodoo Economics" zu verlassen, sollte die binnenwirtschaftliche Nachfrage direkt durch ein Staatsausgabenprogramm angeregt werden, das in erster Linie auf die Bedürfnisse der Kommunen zugeschnitten ist. Mit einer parallelen Zinssenkung könnte die Europäische Zentralbank ein weiteres wichtiges Vertrauenssignal für die Konsumenten und vor allem für die Investoren setzen. Aber selbst wenn sich die Notenbanker auch künftig nicht hinreichend bewegen, müssen Bund, Länder und Kommunen endliche ihre Verantwortung wahrnehmen.
Zum überfälligen Befreiungsschlag mittels expansiver Staatsausgaben gehören mehrere Schwerpunkte. Erstens müssen konjunkturbedingte Defizite infolge sinkender Steuereinnahmen und steigender Krisenkosten hingenommen werden. Denn durch Kürzungsrunden bei den Ausgaben werden der Wirtschaft Aufträge entzogen. Zweitens sollte ein Zukunfts-Investitions-Programm, das auf den Infrastrukturbedarf der Städte und Gemeinden ausgerichtet ist, durch eine öffentliche Kreditaufnahme vorfinanziert werden, die dann im Aufschwung wieder abzubauen wäre. Einer solchen Politik entgegen stehen derzeit die Maastricht-Kriterien sowie der Amsterdamer Stabilitäts- und Wachstumspakt vom Juni 1997. Diese Vorgaben zur Begrenzung des Staatsdefizits sind jedoch konjunkturpolitisch schlichtweg "stupido" - so der EU-Kommissionspräsident Romano Prodi. Denn derzeit gibt es keinerlei Inflationsgefahren. Im Gegenteil: Wir befinden uns in einer Wachstums- und Beschäftigungskrise bei deflationärer Tendenz. Schließlich sollte drittens eine expansive Finanzpolitik innerhalb der EU koordiniert werden. So könnten die Mitgliedsstaaten länderübergreifende, transeuropäische Infrastrukturprojekte gemeinsam in Angriff nehmen.
Machen wir uns also frei von ideologischen Vorurteilen und wagen den Befreiungsschlag. Je früher, desto besser. Denn eine Deflation kann am besten vorbeugend in Schach gehalten werden. Wenn die Unternehmen noch mehr Beschäftigte entlassen und gegeneinander mit Dumpingpreisen antreten, wenn der Kampf um eine schrumpfende Nachfrage voll entbrannt ist, wenn Banken kaum noch Kredite vergeben und wenn alle gemeinsam nur noch negative Zukunftserwartungen haben, dann helfen auch Null-Zinsen und große Staatsprogramme nicht mehr.
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