Der Charme des Musealen

Brecht und Schiller in Hamburg "Der gute Mensch von Sezuan" und "Maria Stuart" als Negativ-Beispiele dafür, dass die Aktualität des Theaters nicht in neuen Inhalten, sondern in entsprechenden Formen besteht

Normalerweise läuft der Hase im Theater so: Wenn sich der Vorhang hebt, beginnt das Stück. Im Hamburger Schauspielhaus war es am letzten Freitag andersrum. Als sich der Vorhang hob, war das Stück zu Ende. Da waren aber erst fünf von 180 Minuten rum.

Auf dem Programm stand Bertolt Brechts Der gute Mensch von Sezuan, eine Parabel über die Schwierigkeit, unter den ökonomischen Bedingungen des Kapitalismus "gut zu sein und doch zu leben". Schon mit vollem Bauch gleicht dieses Unterfangen der Quadratur des Kreises. In Sezuan jedoch herrscht bittere Armut, und da auch in der chinesischen Provinz vor der Moral das Fressen kommt, müssen die Menschen daran scheitern. Dieses Scheitern zeichnet das Stück in zehn Bildern und einem Vorspiel nach, doch statt einer Lösung hält es am Ende jene berühmte Formulierung parat, mit der Marcel Reich-Ranicki jahrelang das Literarische Quartett beschloss: "Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / den Vorhang zu und alle Fragen offen." Damit meinte Brecht, dass eine Inszenierung nicht belehren soll. Wissen, warum man sie macht, sollte man allerdings schon.

Was sich nach einer Plattitüde anhört, ist ein Problem, mit dem sich das Theater rumschlägt, seit es sich vom reinen Uraufführungs- zum Repertoirebetrieb wandelte, dem das Nachspielen von alten Stücken erlaubt ist. Das ist zweieinhalb Jahrtausende her. Seither sollte es einer Aufführung anzusehen sein, warum sie, um sich zur Gegenwart zu verhalten, einen alten Text bemüht. Und das gilt nicht nur für Brecht.

Immerhin: Wie dessen 1940 im Exil beendeter Sezuan begann auch die Premiere mit dem Vorspiel, in dem der Wasserverkäufer Wang (Lutz Salzmann) die Ankunft dreier Götter erwartet, von denen er sich den Wandel zum Besseren verspricht. Den haben zwar auch die "Erleuchteten" im Sinn, doch anders als von Wang erhofft: Sie fühlen sich nicht dem sozialen Fortschritt verpflichtet, sondern suchen einen Menschen, dessen Selbstlosigkeit als Beweis dafür gelten kann, dass die Welt grundsätzlich richtig eingerichtet ist. Die Wahl fällt auf die Prostituierte Shen Te (Marion Breckwoldt), die den Fremden Nachtasyl gewährt. Zum Dank erhält sie genügend Geld, um davon einen Tabakladen zu eröffnen. Der Gründung einer bescheidenen Existenz stehen jedoch so viele Schnorrer und Neider entgegen, dass Shen Te in die Rolle des erfundenen Vetters Shui Ta schlüpfen muss, um sich ihrer durch Strenge zu erwehren.

So jedenfalls im Stück, das der Regisseur Christian Pade jedoch schon nach fünf Minuten umschreibt: Wenn sich der Vorhang hebt, gerät eine Leinwand in den Blick, auf dem die Götter per Video erscheinen. Statt Masken zu tragen - eines jener Mittel, mit denen Brecht das Theater auch formal erneuern wollte -, halten sie sich hölzerne Smileys vors Gesicht. Einfälle statt Formbewusstsein prägen auch das Erdenleben: Zwar ist Shen Tes Laden ein ärmlicher Verschlag, für einen Fernseher reicht es aber schon, und die vermeintlichen Schnorrer sind mit edlen Stoffen, Schmuck und Schminke eher für eine Party als fürs Hungern angetan. Prompt hält sie statt der täglichen Portion Reis die Prise Koks vor Ort. Den siedelt das total verbaute Bühnenbild (York Landgraf) in einer fernöstlich anmutenden Hochhauslandschaft an, in der Natur nur noch als Baumschule vorkommt. Da man sich aber an hüfthohen Setzlingen nicht erhängen kann, muss Shen Te den Flieger Sun (Achim Buch) aus einer Plastikplane befreien, um ihn ins Leben zurückzuholen.

Dies sind nur einige der zahllosen Manipulationen, die der Abend an dem Stück vornimmt, um es vermeintlich zu aktualisieren. Amerika-kritische Töne gehören ebenso dazu wie bestechliche Polizisten und andere wohlfeile Übertretungen der Anstandsgrenzen. Tatsächlich sind die jedoch so eng gezogen, dass sich die Inszenierung darin stranguliert: Die Hauptstadt Chinas wird politisch korrekt Beijing genannt, und der Blecheimer, den der Wasserverkäufer mit viel Schwung Richtung Publikum entleert, enthält nur papierne Sterntaler. Angebracht gewesen wäre eine solche Zurückhaltung gegenüber der Musik von Paul Dessau, die als basslastiger Elektropop ertönt und vom frenetischen Spiel auf der Luftgitarre begleitet wird. Falsche Töne sind von diesem Instrument nicht zu befürchten. Das macht es einer Inszenierung überlegen, die vor Missklängen nur so strotzt, weil sie einer Verwechslung aufsitzt: Wie jede Kunst wird auch das Theater nicht durch neue Inhalte, sondern durch adäquate Formen aktuell.

Die Richtigkeit dieser These erwies sich nur einen Abend später und wenige hundert Meter entfernt. Denn im Thalia Theater hatte am Sonnabend Maria Stuart von Friedrich Schiller Premiere, und auch wenn die Inszenierung von Stephan Kimmig in der Wahl der künstlerischen Mitteln ungleich konsequenter ist als im Fall von Sezuan, verfehlt sie die Gegenwart genauso gnadenlos.

Die Beschreibung des Abends mag dieser Diagnose zunächst widersprechen, denn er ist von Anfang an um Zeitgenossenschaft bemüht. Zunächst mit - einem Video, das zwar keine Götter, dafür eine Art Wunder präsentiert: eine Zellteilung im Zeitraffer. Doch was vermehrt sich dort so rasant: Neues Leben? Ein tödliches Geschwür? Oder doch die Angst, von der im Programmheft die Rede ist?

Die Frage hat sich kaum gestellt, da fährt die Leinwand hoch, und gleißend weißes Licht fällt auf das Bühnenbild von Katja Haß, eine aus Betonfertigteilen (beziehungsweise darauf getrimmtem Styropor) errichtete moderne Villa, die sich um einen begrünten Hof erstreckt. Im Vordergrund steht ein Stuhl, der genauso gut in einer Todeszelle stehen könnte wie in einem Frisiersalon. Für die erste, das tragische Ende rechtfertigende Lesart spricht, dass auf dem Stuhl die mit Kabelbindern gefesselte Titelfigur sitzt: Maria Stuart, katholische Königin von Schottland und Gefangene Elisabeths, der protestantischen Königin von England.

Vom Konflikt zwischen diesen beiden Frauen handelt Schillers Stück, und auf staatspolitischer Ebene gärt er nicht weniger heftig als in Glaubensdingen und der Frage, wer die Schönste im Lande sei. Der letzte Punkt spricht eher für die zweite, weniger dramatische Herkunft des Stuhles aus dem Frisiersalon. Die erhält weitere Plausibilität, weil sich rechts davon ein Waschbecken aus Edelstahl befindet. Und mit jeder der insgesamt 120 Minuten sinkt der Abend weiter auf das Niveau jener Illustrierten, die an solchen Orten auszuliegen pflegen.

Grund dafür ist der unselige Drang zur Deutlichkeit, der sich wie im drehbaren Bühnenbild auch in den Kostümen von Anja Rabes zeigt: Die zum Tode verurteilte Maria (Susanne Wolff) trägt ein legeres graues T-Shirt und einen schwarzen Rock. Elisabeth (Paula Dombrowski) und die Ihren hingegen stecken in staatstragenden dunkelblauen Anzügen. Nur der Graf von Leicester (Werner Wölbern), der opportunistisch die Seiten wechselt, trägt zum grauen Anzug einen giftgrünen Pullunder. Ähnlich grelle Wirkung haben auch viele Regieanweisungen. So nutzt Maria eine von nur zwei "entfesselten" Momenten dazu, sich auf offener Bühne die Zähne zu putzen. Das lang ersehnte Treffen mit Elisabeth absolviert sie so zwar frei von Mundgeruch, aufs Schafott muss sie gleichwohl. Und da ihr sämtliche Begleiter gestrichen wurden, gerät Marias letzte Szene zum Monolog, in dem sie sich selbst die Beichte abnimmt.

Nicht alle Figuren leiden derart offensichtlich unter Widersinn. Wenn trotzdem alle unsinnig geraten, liegt das an der Spielweise, die Glaubwürdigkeit mit Inbrunst gleichsetzt. Doch als Ausdruck für innere Vorgänge waren ausladende Gestik, bedeutungsvolle Mimik und erhobene Stimmen vielleicht zu Schillers Zeiten opportun. Gut 200 Jahre später hat das allenfalls den Charme des Musealen. Dass auch renommierten Darstellern solche Entgleisungen passieren, ist jedes Mal wieder verblüffend. Weniger erstaunlich hingegen ist die Reaktion des Publikums, das den Ausflug in die theatralische Vergangenheit mit begeistertem Applaus honoriert. Und über diesen Umweg sagt der Abend wohl doch etwas über die Gegenwart aus.


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