"Manche behaupten, Fußball sei ein Spiel auf Leben und Tod. Dieser Ansicht kann ich mich nicht anschließen. Ich versichere Ihnen, es ist wesentlich ernster."
Im Alter von 82 Jahren verstarb am vorvergangenen Dienstag der Fußballgott Alfred "Adi" Preißler, Kapitän der Dortmunder Meistermannschaft der Jahre 1956 und 57, der in 294 Spielen für Schwarz-Gelb 175 Tore erzielte und damit bis heute Rekordtorschütze ist. Auch wenn sein Reich in der Vorbundesligazeit zwangsläufig lokal begrenzt blieb und er es auf nur zwei Länderspiele gebracht hat, halten bei der Nachricht seines Todes nicht nur eingefleischte BVB-Fans andächtig inne. Denn der gebürtige Duisburger und spätere Trainer, dem mit Rot-Weiß Oberhausen der Aufstieg in die 1. Liga gelang, hat eine der wenigen, wenn nicht gar die einzig ewig gültige Wahrheit über den Fußball und damit, siehe oben, über das Leben geprägt.
Welche Gewissheit, die wir einst für Naturgesetz hielten, kann von sich behaupten, die dramatischen Veränderungen, die der Fußball in den letzten Jahrzehnten genommen hat, schadlos überstanden zu haben? "Der Ball ist rund" und "der nächste Gegner der schwerste" - wenigstens darauf scheint auch vor dem Anpfiff der 41. Bundesligasaison einigermaßen Verlass zu sein. Dass "ein Spiel 90 Minuten dauert", ist in Zeiten, da selbst Meisterschaften in der Nachspielzeit entschieden werden, kaum mehr als eine nostalgische Reminiszenz. Endgültig der Geschichte gehört die Definition an, dass Fußball ein Spiel ist, "bei dem 22 Mann einem Ball nachrennen, und am Ende gewinnen die Deutschen".
Für jüngere Leser sei daran erinnert, dass hier von Zeiten die Rede ist, in denen dem (Leder!)Ball nicht in AOL-Arenen oder Playmobilstadien, sondern in Kampfbahnen namens Glückauf oder Rote Erde nachgejagt wurde.
Zugegeben: Wo "das meiste Geld für Alkohol, Weiber und schnelle Autos ausgegeben, der Rest einfach verprasst wurde", mag es hier und da an der "professionellen Einstellung" gefehlt haben. Doch eines war der Fußball damals mit Sicherheit nicht: "die schönste Nebensache der Welt." Diese Gefahr droht ihm erst, seit er von geschäftstüchtigen Vermarktern zu einem Premiumprodukt erklärt wurde. Der Beginn dieser Entwicklung lässt sich auf Samstag, den 16. Mai 1992, datieren, als die "gute alte Sportschau" das Zeitliche segnete. Elf kostbare Lebensjahre war der Samstag nach 17:15 Uhr sinnentleert, weil die Fernsehrechte an der Fußballbundesliga bei Privatsendern lagen.
In der Hoffnung, mithilfe der Ware Fußball das Nischendasein verlassen zu können, boten und zahlten zunächst RTL, später SAT 1 für die Übertragungsrechte Schwindel erregende Summen. Weil die horrenden Ausgaben refinanziert werden mussten, wurde die altväterliche Gutenabendallerseits-Mentalität, die sich weitestgehend auf die Berichterstattung über "Punkte, Tore, Meisterschaft" konzentrierte, durch eine Dauerwerbesendung ersetzt, die zu gleichen Teilen von Gewinnspielen, Showelementen und Spielberichten unterbrochen wurde. Um das krasse Missverhältnis zwischen der pompösen Ankündigung und dem lächerlichen Ertrag zu kaschieren, wurde jede Leistenzerrung zu einer schweren "Aduktorenverletzung" und zum Star erklärt, wer zweimal nacheinander in der "Anfangsformation" stand. Weil selbst noch so viele Kameras ein Spiel nicht besser machen, als es ist, wurde das dürre Material mit Bildern von weintrinkenden Vereinspräsidenten und zigfachen Wiederholungen in "Superzeitlupe" aufgebläht, die Kommentatoren damit begründen zu können glaubten, dass man erst in der vierten Einstellung erkenne, was dem wachsamen Auge bereits in der Normalgeschwindigkeit nicht entgehen konnte: klare "Schwalbe".
Wo sachlich-fachliche Substanz fehlt, muss sie künstlich produziert werden. Dafür hat man Abscheulichkeiten wie die ran-Datenbank ersonnen, in der jeder "Zweikampf" und jede "Abseitsstellung" abgespeichert wird. Doch dass ein Brasilianer bei Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt nach Ecken von links weniger Kopfballtore erzielt als im Hochsommer nach Ecken von rechts, kann nur den verwundern, der mit Nieselregen nicht automatisch "dem Fritz sei Wedder" assoziiert. Der Versuch, dem Fußball durch statistische Größen wie "Nettospielzeit" etwas von jener Authentizität zurückzugeben, die ihm durch die Aufwertung zum Event genommen wurde, leistet einzig seiner weiteren Banalisierung Vorschub: Nie war er ges(ch)ichtsloser als in jenen elf Jahren, in denen er mit viel Aplomb zu einer jener Marken "hochsterilisiert" wurde, wie sie derzeit von den Plakatwänden unserer Städte und Dörfer aggressiv beworben werden.
Glaubt man den Werbespots der ARD, hat dieses Elend ab dem 2. August ein Ende. "Der Fußball kommt nach Hause", verheißt sie seit Wochen den Anbruch einer neuen Zeit, deren Glücksversprechen darin liegt, dass sie nahtlos an die uralte anknüpft. Das Rad zurückdrehen kann die neue Sportschau jedoch genauso wenig wie es neu erfinden, und da sich inzwischen auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen den Zwängen des Marktes und der Einschaltquote beugen muss, ist eine Ende der Unbehaustheit nicht zu erwarten.
"Schaun mer mal", sagt der Kaiser, und eine Chance haben die neuen Macher sicherlich verdient. Doch Skepsis ist angebracht - erst recht, wenn die ARD die Drohung wahr macht und einen gewissen Herrn Beckmann mit der Moderation betreut, der als Erfinder des Formats "Fußballshow" maßgeblich für die Seins- und Sinnkrise verantwortlich ist, die uns Sonnabend für Sonnabend befällt.
"Entscheidend is aufm Platz!" sei deshalb den Verantwortlichen jene einzig ewige Wahrheit mahnend zugerufen, deren Schöpfer Adi Preißler in unseren Herzen weiterleben wird. Allen, die um ihn trauern und der neuen Sportschau mit Bangen entgegensehen, seien jene tröstenden Worte in Erinnerung gerufen, die der serbische Hesse Dragoslav "Steppi" Stepanovic einst in der bitteren Stunde des Abstiegs gefunden hat: "Lebbe geht weiter - so oder so."
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