Der Nebel wird dichter

Deutschstunden Zwei Berliner Premieren im mehr oder weniger produktiven Hader mit ihren Stückvorlagen

Als Claus Peymann am Ende des letzten Jahrhunderts vom Wiener Burgtheater ans Berliner Ensemble wechselte, um die Leitung des früheren Brecht-Theaters zu übernehmen, hatte er zwei Vorsätze im Gepäck, die sich letztlich als identisch erweisen: Der Politik, die ihm zum Antritt einen roten Teppich ausgerollt hatte, wollte er ein Stachel im Fleisch sein und das Publikum der Hauptstadt mit einem Spielplan verstören, der sich explizit als politisch begreift: Lessing, Schiller, Brecht, ergänzt um Gegenwartsdramatik von Peter Turrini, Thomas Bernhard und Peter Handke.

Wie an der Burg stand anfangs auch Elfriede Jelinek auf dieser Liste. Am BE jedoch wurde das "Experiment" nach nur einem Anlauf beendet: Auch ein Theater ist ein Wirtschaftsunternehmen, das auf die Zahlen gucken muss. Nun, da die Autorin mit dem Nobelpreis auch Popularität erlangt hat, setzt der Hausherr mit Wolken.Heim. einen Text auf den Spielplan, der fast 20 Jahre auf dem Buckel hat. Dass der Abend trotzdem als Uraufführung firmiert, erklärt sich daraus, dass Jelinek unter dem Eindruck der Streiks beim Autobauer Opel einen zweiten Teil mit dem Titel Und dann nach Hause. geschrieben hat.

Doch auch der Gegenwartsbezug macht aus dem Ganzen noch kein Drama. Dem steht der Text selbst entgegen, der, ohne Nennung von Figuren und durch wenige Absätze getrennt, Schriften deutschen Geistes so montiert, dass daraus deutscher Ungeist spricht: Von der vielstimmigen Wahrheitssuche in den Wolken zum Heim im Zwangskollektiv des Wir.

"Schwere Kost", die Peymann dem Publikum vorab versprach, ist der Text so vor allem für das Theater selbst, das sich als Hort aufgeklärten Geistes radikal infrage gestellt sieht. Dem versucht die Bühne von Achim Freyer zu entsprechen, ein großer grüner Kasten, der vorn über die Rampe ragt und sich nach hinten hin verengt. Hinter einem winzigen Fenster hoch oben in der schmalen Rückwand simuliert farbiges Licht den Lauf der Zeit. Mehr als nur ein Bild für Zwang, ist der Raum so hermetisch abgeschlossen, dass Auf- und Abgänge unmöglich sind. So schälen sich 14 Schauspieler in grünen Fräcken und weißen Handschuhen aus der giftgrünen Umgebung und eröffnen das Gelehrten-Treffen mit dem Lied vom Kuckuck, dessen Ruf den Frühling ankündigt.

Die Möglichkeit, dem Fehlen von Handlung und Figuren chorisch zu begegnen, ist Peymann durch Wiener Inszenierungen von Einar Schleef vertraut. Durch Rhythmus Spannung zu erzeugen meint jedoch anderes als Singsang, kollektiven Führergruß, Polonaise und Wiener Walzer, den der Kongress tanzt. Vom schmalen Grad zwischen Geist und Ungeist, den der Text beschreibt, stürzt die Inszenierung ab, wenn unter den Revers die Aufschrift "DDR" aufblitzt, sobald von Negern und anderen Unterdrückten die Rede ist.

Solchem Polit-Kitsch wenigstens noch guten Willen zu unterstellen hat sich spätestens erledigt, wenn ein Windstoß die grüne Wandverkleidung herunterreißt und die Spieler unter sich begräbt. Zurück an der Oberfläche, tragen sie schwarze Handschuhe, Schutzhelme und Pappnasen. Für die weniger drolligen Aspekte der Globalisierung nur unzulänglich gerüstet, entgeht ihnen, dass der Sturm auch die Rückwand eingerissen hat. Unter Zwang stehen sie gleichwohl. Den übt nun einzig die Regie aus, die von ihnen verlangt, den Wortkaskaden ihrer Mitspieler mit einer Inbrunst zu lauschen, als sei es ein klassischer Dialog. Ihnen dürften die knapp zwei Stunden mehr zusetzen als dem Publikum.

Wirklich glücklich wirken die Schauspieler auch drei Tage später nicht, doch bei Groß und Klein von Botho Strauß hat das andere Gründe - und vor allem andere Folgen.

Das Ensemble der Berliner Volksbühne steht in dem Ruf, auf "Gäste" misstrauisch zu reagieren und sie schon mal zu mobben. Fakt ist, dass der Hausherr Frank Castorf vor wenigen Wochen eine Inszenierung übernahm, weil der Regisseur erkrankte. Nun musste er kurz vor der Premiere erneut einspringen, weil ein Gast-Regisseur das Handtuch warf: Auch ein Theater ist ein Wirtschaftsunternehmen, das auf die Zahlen gucken muss.

Stück und Autor dieses Streitfalls sind untrennbar mit der Schaubühne verknüpft, die im West-Berlin der späten Siebziger Inbegriff des politischen Theaters wie der Hochkultur war - ein Widerspruch nicht erst, seit mit der "Insel" auch dessen Milieu Geschichte ist. Für dieses Milieu steht Lotte (Kathrin Angerer): Von ihrem Mann Paul (Bernhard Schütz) und Gott verlassen, reist sie durch die alte Bundesrepublik. Doch statt Liebe und Wahrhaftigkeit findet sie nur die Gier nach Sex, Geld, Drogen und Designerkleidung vor.

Als Metapher für Lottes Welt-Fremdheit steht ein Haus mit zehn Zimmern. Auf der Bühne von Janina Audick sind daraus zehn fahrbare Wohncontainer geworden, die von den Spielern über die Bühne geschoben werden, um als Essen, Sylt oder Saarbrücken an der Rampe zu stehen. Vor das Stationendrama der Sinnsuche hat die Regie jedoch Kathrin Angerers Gang durchs Parkett auf die leere Vorbühne gesetzt, wo sie ein viertelstündiges öffentliches Selbstgespräch führt. Den Mantel nimmt ihr die Requisite im Tausch gegen eine Schachtel Zigaretten ab.

Schauspiel als Arbeit und Theater als Vorgang auszustellen entspricht dem Selbstverständnis der Volksbühne. Das Stück tut es weniger, weil die kleinbürgerliche Nabelschau heute eher larmoyant als erhellend wirkt. So steht zu vermuten, dass der Proben-Konflikt weniger Personen und deren Herkunft, sondern vielmehr die Haltung gegenüber der Vorlage betraf. Dafür spricht die Premiere, der das Unbehagen am Text über zweieinhalb Stunden anzumerken war - und die alles tut, um ihm gerecht zu werden.

Zwar werden Orte und Menschen, auf die Lotte in ihrem Leer-Lauf trifft, nur angedeutet, doch gerade das fördert Erhellendes zutage. Etwa über Josefine (Laura Tonke), der Lotte die teure Garderobe klaut. Die Fabrikantengattin macht den Diebstahl ungeschehen, indem sie bei einer Anprobe die Kleider übereinander zieht. Nun steht Lotte zwar mit leeren Händen da - die Dumme aber ist die, die entsetzt auf ihre leere Kleiderstange starrt.

Doch selbst mit Pinguin- und Eisbärenkostüm lassen sich nicht alle Konflikte des Stücks in ein neues Gewand stecken. So versinkt die Bühne allmählich im dichten Nebel, in dem nur ein Leuchtturm Orientierung gibt. Geschichte geht nicht nur über Milieus, sondern auch über deren Dramatik hinweg. Sich selbst und seinem Publikum diese Einsicht zu erarbeiten ist das Verdienst des Abends, der zwar Längen hat, aber nur an einer Stelle irrt: "Im Westen könnte ein Paul mich hören", klagt Lotte. Inzwischen stimmt nicht einmal mehr das.


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