Ginge es nach dem Berliner Kultursenator Thomas Flierl, wäre die Spielzeit 2005/06 die letzte des amtierenden Intendanten des Deutschen Theaters, Bernd Wilms. Der designierte Nachfolger Christoph Hein wurde von der kritischen Fachwelt jedoch so heftig attackiert, dass er seinen Dienst lange vor dem Antritt quittierte. Und da auch eine vom Senator eiligst berufene Findungskomission dafür votierte, wurde der Vertrag des bereits geschassten Wilms kurzerhand um zwei Jahre verlängert.
Zur Farce konnte die Personalie nur werden, weil Flierl das Intendantenkarussell ohne Not angeworfen hatte: Ein "Haus der klassischen Literatur mit zeitgenössischen Interpretationen, hoher Sprachkultur, herausragenden Regisseuren und großen Schauspielern", das der Senator erträumte, war und ist das DT auch unter Wilms. Dass die erste Premiere der neuen Spielzeit diesen Nachweis schuldig bleibt, tut dem Gesamtbild keinen Abbruch.
Max 100 - mit diesem Motto ehrt das Deutsche Theater Max Reinhardt, der vor 100 Jahren die Direktion des Hauses übernahm, um von hier aus das Schauspiel künstlerisch wie organisatorisch zu revolutionieren. Reinhardt gilt als Begründer des Regietheaters, der ein Theaterimperium mit Filialen in Berlin, Wien und Salzburg aufbaute. Das jähe Ende des künstlerischen wie geschäftlichen Erfolges kam 1933, als der Jude Reinhardt seine Bühnen dem "Dritten Reich" übertrug, es Richtung Österreich verließ und nach dessen "Anschluss" in die USA emigrierte, wo er 1943 starb.
Die Max Reinhardt gewidmete Spielzeit mit Shakespeares Kaufmann von Venedig zu beginnen ist in zweifacher Hinsicht sinnfällig: Vor 100 Jahren inszenierte der neue Hausherr das Stück, dessen Thematik - die zwangsweise Übertragung von Eigentum - nicht nur von Ferne an sein späteres Los erinnert. Dem bitteren Ernst dieser Konstellation steht allerdings der Umstand entgegen, dass der Kaufmann eine Komödie ist, was seit Mitte des 20. Jahrhunderts vor jeder Inszenierung hohe Hürden aufbaut.
Antonio hat mit dem Seehandel ein Vermögen gemacht hat, das er mit jedem Schiff, das sich auf die Ozeane wagt, riskiert. Um die reiche Porzia heiraten zu können, erbittet sein Freund Bassanio einen Kredit, den Antonio beim Juden Shylock beschaffen muss. Der ist in den Augen des Christen ein verderbter Wucherer. Entsprechend ungewöhnlich gerät die Schuldverschreibung, die Shylock für den Kredit verlangt: ein Pfund von Antonios Fleisch.
Wahrlich kein heiterer Stoff, und komödiantisch wird er erst durch die Rahmenhandlung. Denn nicht Shylock, sondern Antonio ist der titelgebende Kaufmann von Venedig, dessen feine christliche Gesellschaft sich erlaubt, unter Berufung auf das Recht das Recht zu beugen. Das ist unzweifelhaft auf Shylocks Seite, und um ihm daraus einen Strick zu drehen, braucht es schon einen Rechtsverdreher vom Schlage Porzias.
Deren Landsitz Belmont wird in der Regie von Tina Lanik zum Casino, in dem ein Glückspielgerät die Kästchen aus Gold, Silber und Blei ersetzt, mit denen Porzias Vater über seinen Tod hinaus die Zukunft seiner Tochter bestimmt: Derjenige Edelmann soll sie und damit ihr Vermögen erhalten, der ungeachtet des äußeren Wertes jenes Kästchen wählt, das Porzias Konterfei enthält. Die nicht eben belanglose Entscheidung verfolgen Porzia (Katharina Schmalenberg) und ihre Zofe Nerissa (Lotte Ohm) so amüsiert, wie es einem Casino angemessen ist. In luftigen Tops und getigerten Leggins tänzeln sie zu Discomusik, noch ehe sich die sämtlich tumben Freier für Edelmetall - und damit falsch entscheiden.
Zur Karikatur gerät auch Venedig, ein aseptisch-weißes Halboval (Bühne Magdalena Gut), in dem Antonio (Stefan Hunstein) inmitten seiner Freunde steht, die helle Business-Anzüge tragen und Zigarre rauchen. Zum Zeichen seiner Schwermut ist Antonio unrasiert, trägt das Hemd über der Hose und verschleppt die Sprache: Diese Gesellschaft ist von Beginn an ersichtlich so marode, dass kein Narr durch Sprachwitz davon künden muss - und Lanzelot (Thomas Schmidt) prompt die Hälfte seines Texts einbüßt.
Ebenso von Strichen entstellt sind Shylocks Tochter Jessica (Daniela Holtz) und Lorenzo (Stefan Kaminksi), die um ihrer Liebe willen zwar zu Porzia fliehen, dort jedoch nie ankommen. Denn im letzten Bild hat auch Belmont die Farbe eingebüßt und erstrahlt in sterilem Einheitsweiß. Der Einebnung fällt auch Shakespeares frivoler Schluss zum Opfer: Im DT endet der Abend nach fast drei Stunden mit einem gezwungen lächelnden Antonio inmitten dreier Paare, die sich ihres Glücks so recht nicht freuen können.
Die politisch korrekte Lesart des Kaufmann von Venedig, in der sich die Mehrheitsgesellschaft selbst als unmoralisch brandmarkt, mag die junge Regisseurin ehren, dem Stück macht es jedoch den Garaus, weil der Konflikt um Antonios Schuldverschreibung schon vor dem Entstehen zur Nebensache gerät. Dass gegen wohlmeinende Vor-Urteile selbst der "Schauspieler des Jahres" Ulrich Matthes nicht anspielen kann, zeigt sich schon im ersten Auftritt Shylocks, bei dem er von Schmähungen nicht nur zu berichten weiß, sondern sie live erleiden muss, als Antonio ihn bespuckt.
Als dessen Bürgschaft fällig wird, ist Shylocks Forderung auf Erfüllung nicht mehr nur legal, sondern auch legitim. Um Shylocks moralische Integrität zu betonen, lässt die Regie ihn vor dem Dogen (Gabriele Heinz) mit einem breitkrempigen, "typisch jüdischen" Hut antreten, unter dem er zur Sicherheit eine Kippa trägt. Doch als Antonio bereits das Hemd geöffnet hat und den Schnitt ins Fleisch erwartet, spricht Porzia ihr rabulistisches Urteil, das dem Juden Hab, Gut und Religion nimmt. Nicht nur Bassanio (Frank Seppeler) und Graziano (Sven Walser) ahnen nicht, dass sie in diesem Moment ihren als Männer verkleideten Frauen gegenüberstehen: Porzias und Nerissas Aufbruch aus Belmont ist hier ebenso gestrichen wie der Tausch der Ringe, der ihre frisch angetrauten Männer des Treuebruchs überführt. Dass die Frauen sie dafür gleichwohl zur Rede stellen, fällt nach all den Ungereimtheiten nicht weiter ins Gewicht.
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