Die Dialektik der Geschichte

Geburtsfehler Stephan Suschke hat die Inszenierungen Heiner Müllers dokumentiert

Zum 100. Geburtstag erfuhr Bertolt Brecht postume Würdigungen, die den Tatbestand des Rufmordes erfüllten. Besonders arg setzten ihm jene zu, die es - vom Bundespräsidenten bis zu den Vertretern einer reinen Lehre - besonders gut mit ihm meinten und dabei übersahen, dass die unkritische Inbesitznahme dem "Umbau des rebellischen Sohnes in die Vaterfigur" Vorschub leistet, "der Brechts Erfolg ausmacht und seine Wirkung behindert".

Dieses Diktum, das mit dem "Brecht-Jahr" 1998 seine Erfüllung fand, ist 25 Jahre alt und stammt vom Dramatiker Heiner Müller - dem acht Jahre nach seinem Tod dieselbe Gefahr droht. Erste Anzeichen dafür lieferte sein 75. Geburtstag am 9. Januar dieses Jahres. Das Staatsoberhaupt meldete sich zwar nicht zu Wort, dafür geriet die Inszenierung des Auftrags zum wochenlang ausverkauften "Event", über dessen Premiere das Fernsehen in den Hauptnachrichten berichtete.

Zur selben Zeit wurde auf einem Kongress der Heiner-Müller-Gesellschaft die These diskutiert, dass "die Frage der Sprache für Müller zentral war" - was für jeden Trivialliteraten gelten dürfte. Ob sich mit Müller tatsächlich der Beweis führen lässt, "dass ein richtiges Leben im falschen möglich ist", ist bald anhand der Gesamtausgabe überprüfbar, die derzeit bei Suhrkamp herausgegeben wird und bis zu seinem 10. Todestag abgeschlossen sein soll. Zwangsläufig zu kurz kommen wird darin der "ungeschriebene" Teil seines Werkes, darunter die Arbeit als Regisseur, mit der er Anfang der achtziger Jahre begann, um "die Deutungsmacht über seine Texte zu erlangen, ihnen mit den Mitteln des Theaters zu politischer Wirkung zu verhelfen".

Dieses Motiv nennt das Buch Müller macht Theater von Stephan Suschke, das ebenfalls zu Müllers 75. Geburtstag erschienen ist und die Regiearbeit des Dramatikers dokumentiert. Mit dem Verb ist die größte Leistung dieses 288 Seiten starken, großformatigen und reich bebilderten Buches bereits benannt. Denn obwohl der Autor an der Hälfte der Inszenierungen direkt beteiligt war, enthält er sich, vom Vorwort abgesehen, jeder nachträglichen Bewertung einer Arbeit, die kaum weniger sperrig ist als das geschriebene Werk.

Möglich wurde diese wohltuende, sich jede Glorifizierung versagende Zurückhaltung dank einer Praxis, die vom Verband der Theaterschaffenden der DDR begonnen und vom Zentrum für Theaterdokumentation und -information fortgeführt wurde. In der gut 40-jährigen Geschichte dieser Institution, die heute zur Berliner Akademie der Künste gehört, wurde die Entstehung von mehr als 1.000 Inszenierungen dokumentiert. Dieser Fundus, zu dem Suschke zwei Dokumentationen beigetragen hat, dient ihm als Grundlage für eine chronologisch geordnete Theatergeschichte, deren elf Kapitel durch eine Einführung und Aussagen Beteiligter ergänzt werden.

Der Beginn dieser Geschichte liegt im Mai 1980, als gerade mal 40 Zuschauer die Uraufführung von Müllers Stück Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution sahen. Sie endet Anfang Januar 1996, als die Proben zu Germania 3. Gespenster am toten Mann wenige Tage nach dem Tod des Autors und Regisseurs abgebrochen wurden.

Mit den Titeln der ersten und der letzten Inszenierung sind zugleich die Pole benannt, um die sich nicht nur Müllers Schreiben drehte. Auch wenn es sich bei der Revolution, die im 3. Stock der Volksbühne thematisiert wurde, um die französische handelte, galt die Erinnerung einem Symptom, unter dem die DDR bei ihrer Gründung litt: In Umkehrung der historischen Notwendigkeit sah man sich dem Paradox einer "Revolution" gegenüber, die - da importiert - ohne Auftraggeber auskommen musste. Im selben Maße, in dem sich dieser "Geburtsfehler" zur chronischen Krankheit auswuchs, an der das Land zu implodieren drohte, veränderte sich Müllers Schreiben: Den frühen "Komödien", auf die der Staat überaus humorlos reagiert hatte, folgten Bearbeitungen tragischer und antiker Stoffe.

Dass sich mit diesem Kunst-Griff die Zensur leichter umgehen ließ, war bestenfalls ein willkommener Nebeneffekt: "Geschichte", darin Benjamin und Nietzsche näher als Marx und Hegel, war Müller keine abgeschlossene Vergangenheit, sondern jene historische Erfahrung, von der die Gegenwart getränkt ist. Mit der Erfahrung der Einzelnen unterscheidet sich nicht nur ihre jeweilige Gegenwart - diese ist zugleich Produkt objektiver Bedingungen, der sich subjektive Erfahrung erst verdankt.

Von dieser Dialektik sind mit den Stücken auch die Inszenierungen geprägt - weshalb der Auftrag in Bochum auf einiges Unverständnis stieß. 1982 hatte man "tief im Westen" wohl schon verdrängt, dass nach dem Krieg auch dort "die neuen Häuser schneller gebaut werden mussten, als die alten Keller ausgeräumt werden konnten". So blieben es zunächst östliche Keller, aus denen Müller den Abraum der Geschichte auf die Bühne zerrte. Der Inszenierung seiner blutrünstigen Macbeth-Bearbeitung folgte Der Lohndrücker am Deutschen Theater. Das Stück, 1956 entstanden, geriet in der Inszenierung von 1988 zu einer Pathologie, die im Anfang der DDR deren Ende diagnostizierte - das in die Proben von Hamlet/Maschine platzte: Unter Honecker begonnen, fand die Premiere kurz nach der letzten Sitzung des "Runden Tisches" statt.

Auch im vereinten Deutschland hatte Müller Anlass, die "Deutungsmacht" über seine Texte zu beanspruchen. Der Inszenierung von Mauser, seinem einzigen in der DDR explizit verbotenen Text, folgte das Duell Traktor Fatzer, das auf dem Hintergrund des 17. Juni den Widerstreit von Individuum und Gesellschaft thematisiert, der nicht nur im Sozialismus unaufhebbar ist. Einem "Abstecher" nach Bayreuth, wo Müller Tristan und Isolde inszenierte, folgte 1994 Quartett - ein Stück, dessen Popularität er auf die "Flachheit des Textes" zurückführte.

Ein "Erfolg" im marktwirtschaftlichen Sinne war einzig die Inszenierung von Brechts Arturo Ui am Berliner Ensemble, das Heiner Müller mittlerweile leitete. Künstlerisch hielt er seine letzte Inszenierung für einen Rückschritt, doch war sie eher ökonomischen Zwängen als dem Wunsch des Regisseurs geschuldet - und füllt noch heute die Kassen des BE.

Stephan Suschke: Müller macht Theater. Zehn Inszenierungen und ein Epilog, Theater der Zeit, Berlin 2003, 288 S., 34 EUR


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