Die "versaute" Mitte

Sozial- oder Kulturdrama Jürgen Gosch inszeniert am Hanburger Schauspielhaus Maxim Gorkis "Nachtasyl" unter dem Titel "Unten"

Wundern wird man sich doch dürfen: Jürgen Goschs Düsseldorfer Macbeth-Inszenierung wurde vom Verband der deutschen Kritiker zum "Theaterereignis des Jahres 2005" ernannt. Dieselbe Inszenierung steht im Zentrum eines vehementen Richtungsstreits, der sich im Februar in Frankfurt/Main entzündete, als ein Schauspieler und ein Kritiker bei einer Premiere aneinander gerieten. Zum Politikum wurde der lokale Zwischenfall, weil sich der Journalist über die Chefredaktion an die Oberbürgermeisterin wandte, die wiederum die fristlose Kündigung des Schauspielers bewirkte.

Die Solidaritätsbekundungen folgten prompt, galten jedoch vor allem dem Kritiker, dem namhafte Kollegen zur Seite sprangen und an seinem Fall die Grundsatzfrage aufwarfen, was das subventionierte Theater darf und soll. In die entscheidende Runde ging der Streit um den guten Geschmack, als die Bild-Zeitung Partei ergriff und das Problem auf die griffige Formel brachte: "Warum ist unser Theater so versaut?" Der Bock als Gärtner, ließe sich bilanzieren, wären da nicht die Fotos gewesen, die nackte Tatsachen als Beweis anführten: "Gefördert mit Steuergeldern", sprachen die dazugehörigen Texte den wahren Anlass der Empörung, der in den "seriösen" Blättern unterschwellig mitklang, offen aus. Und die Daseinsberechtigung des Theaters an Geschmacksfragen zu knüpfen ist hochgradig versaut.

Ohnehin zielt der Vorwurf so, wie er erhoben wird, am Theater glatt vorbei: Sobald die Vorstellung beginnt, trägt selbst ein nackter Schauspieler ein Kostüm - wenn auch ein textilloses. Schließlich steht er nicht als Nudist auf der Bühne, sondern als Darsteller, dessen Kleidung etwas über die Figur besagt. "Versaut", weil verlogen wäre erst die Behauptung, das (Er-)Leben dieser Figuren authentisch nachstellen zu können - zumal wenn es sich um Obdachlose und deren (Er-) Leben im vorrevolutionären Russland handelt. Dies ist die Ausgangslage von Maxim Gorkis als Nachtasyl geläufigem Stück, das eigentlich Aus der Tiefe heißt und am Sonntag im Hamburger Schauspielhaus in Jürgen Goschs Regie unter dem Titel Unten Premiere hatte.

Der neue Titel der neuen Übersetzung benennt in einem Wort die etablierte Les- und Inszenierungsart als "Sozialdrama", das aus dem bürgerlichen Zentrum auf jene blickt, die den Sockel der Gesellschaftspyramide bilden. Ein solcher theatralischer Appell an Gewissen und Solidarität muss allerdings mit dem Widerspruch leben, dass er sich zur Beschreibung hierarchischer Verhältnisse hierarchischer Strukturen bedient und so die guten Absichten unterläuft.

Der Name Maxim Gorki ist ein Pseudonym, das übersetzt "der Bittere" heißt, und bitter ist in der Tat, was er im Nachtasyl schildert: Männer und Frauen, Jung und Alt, ehemalige Sträflinge und notorische Trinker, verarmter Adel und klassisches Proletariat versammeln sich in einem Heim für Heimatlose, dessen Besitzer ihnen das letzte Geld abpresst. Der Tod ist hier fast so alltäglich wie Saufgelage und Schlägereien. Doch auch an einem solchen Ort beginnen Frühlingstage langsam - nur dass hier ein Hustenanfall Annas (Hedi Kriegeskotte) das Wecken übernimmt. Die unsanft aus dem Schlaf Gerissenen tun, was alle Morgenmuffel tun - nur dass sich hier Matratzenlager und Klo im selben Raum befinden.

Mit jedem Asylbewohner, der sich erhebt, tritt ein neuer Konflikt auf, und die werden nicht eben zimperlich ausgetragen. So willig sich der Baron (Bernd Moss) für etwas Alkohol von Wasska (Kai Schumann) demütigen lässt, so ohnmächtig nimmt Natascha (Katja Danowski) die tägliche Tracht Prügel ihres Schwagers Kostylew (Jürgen Uter) hin. Kleschtsch (Martin Pawloswky) ist das Leben seiner Frau Anna auch dann noch gleichgültig, wenn es erloschen ist. Und der Trost der frommen Lügen des Pilgers (Rik van Uffelen) ist in etwa so zynisch wie der Materialismus Satins (Ernst Stötzner).

Zum rüden Umgang passt das Spiel der Darsteller, das ab der Pause durch einen mannshohen Stapel aus Ästen erschwert wird, der jeden Schritt zur Tortur macht. Doch auch wenn mitunter nackte Haut und Fäkalsprache aufblitzen, ist das Ergebnis des körperlichen Spiels das Gegenteil von versaut: Was im Stück thematisch verhandelt wird, wird vom 17-köpfigen Ensemble im Wortsinn spielend widerrufen, und was Gorki als Mangel und Verlust beschreibt, wird von den Spielern praktiziert. Das Wort dafür findet nicht zufällig der Schauspieler (Lutz Salzmann): Wieder und wieder klagt er von den Asylbewohnern vergeblich Vertrauen ein. Die realen Schauspieler bringen es zumindest soweit auf, dass sie verbale und körperliche Grob- und Rohheiten in dem Wissen einstecken und austeilen, dass es der Sache dient.

Um welche Sache es sich handeln könnte, deutet sich schon darin an, dass die Spieler die Bühne ins Parkett verlassen und dort auf den nächsten Auftritt warten. Im Zuschauerraum hängt auch der einzige Scheinwerfer, der die Bühne erhellt. Und die liefert schon vor Beginn des dreieinhalbstündigen Abends mehr als nur ein Indiz dafür, was "Sache" ist. Johannes Schütz hat einen Raum gebaut, der, von der Kinderzeichnung bis zum Wunschbild des Erwachsenen, den Inbegriff bürgerlicher Sehnsüchte zeigt: ein Haus mit einem Spitzdach, dem zum Idyll allerdings der Schornstein und die vordere Giebelwand fehlen. Und da das weiß getünchte Zimmer zum Parkett hin offen, ansonsten aber hermetisch geschlossen ist, kennt der Abend auch kein Außen, das gemeint sein könnte: Unten spielt ganz im Inneren des Theaters, in dem das Zentrum der Gesellschaft auf eben dieses Zentrum blickt. Und sollte dem ein oder anderen zu dem, was da zu sehen ist, das Attribut "versaut" einfallen, spricht nichts dagegen. Mit der Einschränkung jedoch, dass diese Sauerei kaum dem Theater anzulasten ist.


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