Das Hamburger Schauspielhaus ließ an mehreren der besucherträchtigen Tage zwischen den Jahren die große Bühne leer, um kurz nach der letzten Premiere die nächste vorzubereiten. An einer Bankrotterklärung schrammt diese Politik knapp vorbei, weil das größte deutsche Theater seit dem Sommer eine neue Leitung und ein neues Ensemble hat, das ein Repertoire erst erarbeiten muss.
Zu dem gehört seit Anfang Oktober eine Inszenierung, die behauptet, alles zu sein: Anfang und Fortsetzung, Rückblick und Reflexion. Mephisto beginnt als Pressekonferenz, auf der sich die neue Theaterleitung der Frage "Wie anfangen" stellt. Doch schon das erste Statement, das jede Ähnlichkeit mit realen Personen und Ereignissen negiert, bleibt kokett: Der Abend beruft sich auf den Roman von Klaus Mann, der in dem Schauspieler Hendrik Höfgen den Mythos Gustaf Gründgens porträtiert. Der war einer der Vorgänger von Friedrich Schirmer als Intendant des Schauspielhauses, Görings Günstling und gefeierter Mephisto aus Goethes Faust.
Prompt folgt das "Vorspiel im Himmel", in dem sich der Teufel vom Herrgott für seinen Seelenfang Absolution erteilen lässt. Der Regisseur Anders Paulin ist weniger gnädig. Zu sehr liegt ihm daran, den Opportunismus herauszuarbeiten, der Gründgens den Weg zum Ruhm ebnete. Dumm nur, dass er sich dafür wahllos zusammenklaubt, was im Theater derzeit en vogue ist: Mal mit, mal ohne Hose stürmt Philipp Otto als Höfgen/Gründgens durch eine sprunghafte Szenenfolge. Assistiert wird er von acht weiteren Schauspielern, die in wechselnden Rollen als Zuträger für Masken, Dildos und eklige Substanzen dienen und etwas Klaus Mann, viel Nietzsche und den halben Faust rezitieren.
Jacqueline Kornmüllers Inszenierung von Brechts Der kaukasische Kreidekreis ist nicht so neu, wie das Premierendatum Mitte Dezember verheißt. Sie lief schon in Stuttgart, wo Schirmer zuvor amtierte. Zu Beginn wird die leere Bühne von einem einzelnen Scheinwerfer beleuchtet, an den verschatteten Rändern sitzen an die dreißig Spieler. Nach und nach treten sie ins Licht und formen aus Stühlen einen Kreis, in dem sie den Streit zweier Kolchosen um ein fruchtbares Tal verhandeln. "Könnt ihr es nicht kürzer machen?" fragt ein Diskutant gereizt. Die Antwort ist ein klares "Nein". Schließlich folgen auf das Vorspiel zwei Geschichten: eine beispielhafte Streitschlichtung und eine Liebesgeschichte, die in der Magd Grusche eins werden. Und dass der Abend beide Geschichten gleich ernst nimmt, ist nicht Manko, sondern Verdienst.
Auch im Thalia Theater, wenige hundert Meter vom Schauspielhaus entfernt, liegen die letzte und nächste Premiere nah beieinander. Ein umfangreiches, kontinuierlich aufgebautes Repertoire versetzt das Haus jedoch in die Lage, zwischen den Jahren durchzuspielen. Aus Thomas Manns Hauptwerk Buddenbrooks destillierte der Haus-Dramaturg John von Düffel eine Spielfassung, die seit Anfang Dezember auf dem Spielplan steht und ganz auf die Kinder Tony (Katrin Wichmann), Christian (Peter Jordan) und Thomas (Norman Hacker) zugeschnitten ist. In puncto Übersichtlichkeit befriedigt der Reader´s Digest die Interessen eines bürgerlichen Publikums ebenso wie die Bühne von Katja Haß: An vier Stahltrossen hängt eine Spielfläche, die bei jedem Schritt ins Pendeln und so zur platten Symbolik für die Fragilität der Kaufmannsfamilie gerät. Mit fortschreitender Auflösung kippt die Ebene Mal um Mal an und wieder zurück, bis den zerstrittenen Geschwistern schließlich die Decke in Gestalt einer gewölbten weißen Fläche auf den Kopf fällt.
Wo die Bühne die Hauptlast der Erzählung trägt, gerät das Spiel zwangsläufig zur Nebensache. Die Strenge des Anfangs, zu dem sich die Familie an der Rampe aufbaut, macht der Regisseur Stephan Kimmig durch wahllose Auf- und Abtritte zunichte, die dem aufwändigen Bühnen-Konstrukt Hohn sprechen. Wie sehr das Handwerkliche unter dem Willen zur Bedeutung leidet, dokumentieren die niedrigen Metallleisten, die bis zur Pause die Fläche unterteilen, von den Schauspielern jedoch unwidersprochen ignoriert werden dürfen. Allein den Darstellern der beiden Brüder gelingt es, ihre Figuren schadlos über solche Hürden des Widersinns zu tragen.
Zum Repertoire des Thalia zählt seit Mitte Oktober auch eine Bearbeitung des Don Quixote. Darin versetzen die Autorin Dea Loher, der Komponist Laurent Simonetti und der Regisseur Andreas Kriegenburg Cervantes´ 400 Jahre alten Ritter von der traurigen Gestalt aus der öden Hochebene Zentralspaniens in die Ödnis der modernen Stadt: ein abweisender grauer Raum, dessen Wände Graffiti von Kinderhand zieren.
Doch zunächst verweigert ein namenloser Mann in Rot (Hans Löw) seiner Freundin (Natali Seelig) die Bitte, seine Bibliothek zu verlassen: In einen Prospekt mit aufgemalten Bücherrücken ist eine Nische eingelassen, Bücherwände, ein schäbiger Sessel und Geigenklänge sorgen für fragwürdige Gemütlichkeit. Den Schritt vom imaginierten ins wirkliche Leben erzwingen die Bücher selbst, die unvermittelt aus den Regalen fallen. Gleichzeitig hebt sich der Prospekt und legt eine von Papier übersäte Bühne frei. Aus dem Abraum der Kultur erhebt sich Quixote in einer Rüstung aus Pappmaschee. Neben ihm ersteht seine Freundin als kugelrunder Knappe Sancho Pansa (Bühne und Kostüme auch hier Johanna Pfau).
Von Livemusik im Stil der achtziger Jahre unterstützt, stemmen sich die beiden gegen papierne Windmühlen und Ritter aus Draht. Die Herausforderungen der Jetztzeit sind eben andere: etwa das "Buzziness", das hier als Hure auftritt - und der angebeteten Dulcinea frappierend gleicht. Vollends verwirrt legt Quixote die Rüstung wieder ab, um als anonymer Städter von seinem rappenden Alter Ego (Jörg Koslowski) und einem vielstimmigen Kinderchor ermuntert zu werden, an seinen Geschichten "dranzubleiben". Doch hieße das nicht, den Kampf gegen Windmühlen aufzunehmen?
Die Gefahr, daran irre zu werden, ist groß und ein Scheitern wahrscheinlich. Vielleicht hilft ein Gang ins Theater, wo selbst das Unwahrscheinlichste eine reale Möglichkeit hat. Und so schlecht stehen die Chancen für den Mann von der traurigen Gestalt tatsächlich nicht: Im Hintergrund stehen seit drei Stunden eine Bücherwand und ein schäbiger Sessel. Und zum Großreinemachen findet sich unter sämtlichen Mitspielern auch seine Freundin wieder ein.
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