Boulevard heißt die Gegenwelt zum subventionierten Theater, deren Überleben vom Spagat zwischen künstlerischem Anspruch und wirtschaftlichem Erfolg abhängt. Wo ein einziger Flop zum Ruin führen kann, wird gern auf die Verpflichtung von "Stars" gebaut. Die kosten zwar viel Geld, lassen aber ein Publikum erwarten, dem das Theater eine Form der Unterhaltung unter anderen ist. Insofern zeugt es von Mut, wenn das Hamburger St. Pauli Theater für seine jüngste Inszenierung auf große Namen wie Hannelore Hoger und Gerd Böckmann setzt, mit Edward Albees Wer hat Angst vor Virginia Woolf? jedoch ein Stück ausgesucht hat, das den Gesetzen des Boulevards widerspricht: Als klassisches Konversationsstück nur getarnt, entstand es vor gut 40 Jahren als beißende Kritik am "amerikanischen Traum" und einem Theater, das ihn allabendlich beschwört.
Marthas Vater ist Präsident des Colleges, an dem ihr Mann George lehrt. Den Ansprüchen des Schwiegervaters wird er so wenig gerecht wie denen seiner Frau. Längst erschöpft sich die Ehe im Austausch von Kränkungen und Beleidigungen. Der nächtliche Besuch von Georges jungem Kollegen Nick (Marcus Bluhm) und dessen Frau (Theresa Hübchen) gibt ihnen Gelegenheit, das makabere Spiel vor Publikum aufzuführen. Trotz Georges Warnung erzählt Martha den Gästen von ihrem erwachsenen Sohn. Mit diesem Regelverstoß beginnt eine Kette von Demütigungen, die George schließlich durchschlägt, indem er den Sohn sterben lässt. Den hatte das kinderlose Paar als Projektionsfläche für ihre Wünsche, Hoffnungen und Ängste erfunden, und mit dem Jungen stirbt auch die Möglichkeit, diese Ängste zu bannen.
Der Regisseur und Bühnenbildner Wilfried Minks stellte das bundesdeutsche Theater in den sechziger Jahren vom Kopf auf die Füße, indem er alles Dekorative von der Bühne verbannte und Spiel-Räume schuf, die mit Inhalt zu füllen den Schauspielern überlassen blieb. Auf der ohnehin kleinen Bühne des St. Pauli Theaters richtet Minks nun ein Zimmer ein, das mit rotem Flokati und rosa Ecksofa zwar den Mief der Sechziger atmet, zum Rampenspiel jedoch förmlich zwingt.
Diese Eindimensionalität wird verstärkt durch rabiate Striche. Die kürzen den Abend auf unter zwei Stunden, nehmen dem Text aber neben seiner Penetranz auch die paradoxe Volte, nach der das Ende der Illusion die Möglichkeit eröffnet, sich der Realität der Wünsche zu stellen. Von Albees optimistischer Verzweiflung, die er der Verlogenheit des amerikanischen Traums gegenüberstellt, bleibt die Schilderung einer Ehekrise, die vom älteren auf das jüngere Paar übergreift. Das Publikum bedenkt die Tarnversion von Wer hat Angst vor Virginia Woolf? mit langem Applaus. Und schließlich muss der Boulevard von dem leben, was in die Kasse kommt.
Das subventionierte Theater ist von dieser Last in Maßen befreit, um etwa für Wer hat Angst vor Virginia Woolf? Stars wie Corinna Harfouch und Ulrich Matthes verpflichten zu können, ohne um jeden Preis gefallen zu müssen. Die Bühne im Deutschen Theater zu Berlin ist nahezu leer. Tisch und Stühle markieren Marthas und Georges Heim, dem durch weiß eingefärbte Drähte überaus durchlässige Grenzen gesetzt sind. Dass sich die Figuren mehr als zwei Stunden lang an die Grenzen halten, sagt über sie ebenso viel aus wie über das Zutrauen des Regisseurs Jürgen Gosch, Albees Gesellschaftsparabel ins 21. Jahrhundert retten zu können.
Nichts wäre leichter als die gleichnishafte Kritik des amerikanischen Traums, und weil es so leicht ist, wäre nichts verlogener. Deshalb nimmt die Inszenierung das Stück aus allen Gegenwartsbezügen heraus, mit der es dank der Durchlässigkeit des Bühnenbildes von Johannes Schütz gleichwohl verbunden ist. Dieser doppelten Struktur folgt auch das Spiel der Schauspieler, die Widersprüche vereinen, ohne sie zu tilgen. Vom ersten Satz an ist Harfouchs Martha zugleich hart und verletzlich und Matthes´ George bis zum letzten Satz ebenso Herr der Lage wie deren Opfer.
Die gleiche Ambivalenz gelingt Alexander Khuon als Nick und Katharina Schmalenberg als dessen Frau, die auch hier keinen Namen, dafür aber Konturen trägt, welche hinter dem Privaten das Gesellschaftliche erahnen lassen, das vordergründig ausgespart blieb. Nicht trotz, sondern wegen dieser Unaufdringlichkeit ist der Abend von bloßer Unterhaltung so weit entfernt wie das subventionierte Theater vom Boulevard. Dass das Publikum trotzdem mit langem Applaus reagiert, ist ein kaum lösbares Problem: Qualität findet noch immer Gefallen. Vielleicht wünschte sich Albee deshalb einst, die Leute mögen beim Verlassen des Theaters überfahren werden.
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