Ein rundum liebenswerter Mensch

Medientagebuch Das Porträt der Schauspielerin Angela Winkler auf Arte wirft mehr Fragen auf, als es Antworten gibt

"Angela Winkler wurde am 22. Januar 2004 sechzig Jahre alt." Mit dem Hinweis auf den runden Geburtstag kündigt Arte das Porträt einer Schauspielerin an, in deren Rollen sich Zeitgeschichte der "alten" Bundesrepublik und mehrerer Generationen spiegeln: Die verlorene Ehre der Katharina Blum nach Heinrich Böll, Die linkshändige Frau von Peter Handke, Messer im Kopf und, Oscar prämiert, Die Blechtrommel nach dem Welterfolg von Günter Grass - schon die Titel der Filme künden von der Zerreißprobe, vor der das Land in der zweiten Hälfte der Siebziger stand.

Sowenig rückblickend überrascht, dass derart gegensätzliche Filme binnen weniger Jahre entstanden, so erstaunlich ist bis heute, dass sie die Darstellung ihres Anliegens derselben Schauspielerin übertrugen. "Wenn man die Schuhe gefunden hat, hat man die Figur gefunden", sagt Angela Winkler im Film von Christoph Rüter und zeigt die knöchelhohen Schnürstiefel aus dem Schlussverkauf vor. Besonders gut gepasst haben muss ihr das Schuhwerk der Katharina Blum, denn mit diesem Namen spricht sie ein deutscher Tourist auch 30 Jahre später noch die Darstellerin nahe ihres französischen Domizils an.

Dass dieses Gesicht nicht mit fiktiven Figuren jüngeren Datums identifiziert wird, liegt vor allem daran, dass sich Winkler in den achtziger Jahren rar gemacht hat und seit den neunzigern fast nur noch Theater spielt. Während der Wiedererkennungseffekt für ein Massenpublikum zwangsläufig geringer geworden ist, geraten ihre Bühnenauftritte zu einem Ereignis, für das die Kritik auch dann schwärmt, wenn die Inszenierung als Ganze "durchfällt".

Brechts Mutter Courage, nach einem Jahr Ende Mai aus dem Repertoire des Deutschen Theaters in Berlin genommen, war so ein Fall, bei dem eine Inszenierung völlig anders wahrgenommen wurde als die Hauptdarstellerin. Christoph Rüter hat sie bei der Arbeit an der Titelrolle und im Privatleben mit der Kamera begleitet, um, so der Sender, "die zwei Welten der Angela Winkler" zu zeigen. Doch obwohl die Porträtierte tiefe Einblicke in beide Welten gewährt, gelingt dem Porträt eines nicht: Zu erklären, worin sie sich unterscheiden. "Haben Sie sie gleich erkannt?" fragt der Regisseur den Urlauber, der "Frau Blum" um ein Autogramm gebeten hat. "Sofort", erwidert der entschieden, selbst wenn er den Namen der "Erkannten" nicht weiß.

Am Prinzip des Regisseurs, in seinen Filmen "unsichtbar" zu bleiben, kann es nicht liegen, dass der Frage keine folgt, die das Charakteristische der Anekdote thematisiert. Denn wenn in den Filmen der Siebziger die Darstellerin so sehr hinter der Figur verschwand, dass die "falsche" Katharina Blum als Terroristenbraut beschimpft oder als Ikone des Widerstands bewundert wurde, ist heute eher die umgekehrte "Verwechslung" zu beobachten: Die Person überstrahlt die Bühnenfiguren so sehr, dass selbst Hamlet verblasst, den Winkler vor wenigen Jahren spielte. Damals gipfelte die kritische Suche nach ultimativem Lob in der Formulierung, dass sie nicht spielt.

"Angela kann gar nicht schauspielern", sagt ihr Lebensgefährte Wigand Witting vor laufender Kamera, ehe er gesteht, dass ihm bei fast jeder Premiere die Tränen kommen. Fast alle betonen die erste Silbe des Namens. Nur die Mutter sagt Angela mit langem E. Der Unterschied scheint marginal, aber "spielern" und "spielen" trennt auch nur ein R und doch eine ganze Welt. Falls Witting das abwertende Wort bewusst gewählt hat, wird ihm niemand widersprechen: "Verstellung" ist Angela Winklers Sache sicher nicht. Eher die "besondere Fantasie", die Otto Sander der Kollegin bescheinigt. Worin die besteht und wie in der Arbeit sich äußert, hinterfragt der Film leider nicht.

Lieber zeigt er Winkler beim Bad im Atlantik und in ihrer Berliner Wohnung, wo sie in alten Unterlagen stöbert. Ein Brief Peter Steins, mit dem der Leiter der Berliner Schaubühne auf die Bewerbung der Elevin aus Castrop-Rauxel reagiert, beschäftigt die Regie nicht länger, als das Vorlesen dauert. Mit ihm fallen zwei konträre Haltungen der frühen Siebziger unter den Tisch, als Politisierung des Theaters für die einen Easy Rider, für die anderen "Erziehung zu Sozialisten" hieß.

Für ein Porträt der "Schauspielerin Angela Winkler" kommt das Theater ohnehin sehr kurz und vor allem in Ausschnitten aus älteren Inszenierungen vor. Als Arbeit wird der Beruf am ehesten in zwei Passagen kenntlich. Die erste zeigt dieselbe Szene aus Mutter Courage im Abstand mehrerer Wochen. Darin versucht die Courage, den Preis zu drücken, den sie für das Leben ihres Sohnes zahlen soll: weil sie die geforderten "Tausend" nicht hat und in der Absicht handelt, vom Ersparten neue Ware zu kaufen. Die Doppelbödigkeit der Szene, mit ihr das Dilemma der Figur, betont Winkler, indem sie den einstudierten Text im Gestus "spontaner" Erregung spricht, die sich von Mal zu Mal steigert. Damit setzt sie zugleich einen Kontrapunkt zu der absichtsvollen Kälte der "Ur"-Courage Helene Weigel, die der Film kurz zeigt - und beides nicht als künstlerische Leistung begreift.

Menschliche Wärme, die selbst den Lebensgefährten zu Tränen rührt, darin sieht das Porträt das "Geheimnis" Angela Winklers und schürt so ein hartnäckiges Vor-Urteil: Sei einfach und stolz zitiert der Titel des Films den Rat eines Regisseurs an die Schauspielerin bei der Arbeit an einer Rolle. Der Film selbst versteht den Imperativ als Lebensmotto eines liebenswerten Menschen - und erklärt die "zwei Welten der Angela Winkler" zu einer.

Wenn sie sich aber nicht unterscheiden, das Leben auf und jenseits der Bühne, was bedeutet das für einen Beruf, den man erlernen kann und muss? Welche "Tugenden" sollte ein Anfänger mitbringen? Wer hat das Zeug zum "Star"? Ist Nicht-Spiel Schauspiel in höchster Vollendung? Und was passiert, wenn Hamlet stirbt? Der Film über Angela Winkler wirft Fragen auf, die den ganzen Berufsstand betreffen. Dass er sie beantwortet, wäre zuviel verlangt. Dass er sie nicht aufgreift, obwohl sie auf einem silbernen Tablett serviert werden, ist eine vertane Chance.

"Sei einfach und stolz" - Die Schauspielerin Angela Winkler. Ein Film von Christoph Rüter. Am 4. Juni um 22:10 auf Arte


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