Seit 26 Jahren folgt auf das "offizielle" Theatertreffen das der Jugend, das nach demselben Reglement abläuft: Aus Hunderten Kandidaten wählt eine Jury alljährlich bis zu zehn Inszenierungen aus und lädt sie nach Berlin ein.
Im Sport wird zwischen Profis und Amateuren unterschieden, weil Letztere im direkten Vergleich normalerweise chancenlos sind. Nach der Papierform gilt das auch für das Theater: Keine Vorstellung der Jugendlichen lief ohne Pannen ab, dialektfreies Hochdeutsch war bei den acht Gastspielen aus sechs Bundesländern so selten wie bühnenreifes Spiel. Dass die Amateure in diesem Jahr trotzdem die Nase vorn hatten, hat einen simplen Grund: Schwächen können zu Stärken werden, wenn man um sie weiß.
Bei den Profis wäre Adieu wohl als "Performance" angetreten. Das Düsseldorfer Forum Freies Theater nannte die Melange aus Tanz, Schauspiel und Musik schlicht "Stück". Zum Thema hatte es das Sterben und den Tod, es handelte also vom Leben. Das ist so fragil wie die beiden Luftballons, an denen ein Papierschiff baumelte.
Der Abend begann mit dem Klassiker aller Schauspielkurse, bei dem sich ein Spieler im Vertrauen darauf rücklings fallen lässt, dass die anderen ihn auffangen. Hier stieg der Proband zuvor auf eine Leiter, deren Höhe die Übung zur Herausforderung machte. Erste Gratulantin war Zarah Leander: Wunderbar, dröhnte aus den Boxen ihr Gesang, den sie am Schluss erneut anstimmte. Das Kompliment verdient hatte ein Abend, der das heikle Thema mit spielerischen Mitteln bar jeder Naivität erschloss. "Ich bin tot", tat eine Spielerin schriftlich kund, bis sie den Zettel zerknüllte und sich mit dem Ensemble in einen knapp zehnminütigen Tanz stürzte. Das Wasser, in dem sie anfangs den Freitod suchten, diente nun zur Abkühlung.
Nach Berlin! aus der TheaterFABRIK Gera empfing das Publikum mit dem Idyll aus Wäscheleinen, Vogelgezwitscher und einem Kuscheltier. Nur die Umzugskartons ließen erahnen, wie trügerisch der Friede ist. "Lena!", riefen zwei junge Männer in Unterwäsche ihre Mitspielerin auf die Bühne, um zu dritt einen Abend zu bestreiten, dessen Thema an keinen Ort und kein Alter gebunden war: es ging um den Wunsch, den tristen Alltag hinter sich zu lassen. Und Wünsche spielen sich bekanntlich im Kopf ab.
"Nach Berlin" stand zu Beginn in großen Lettern auf dem Bühnenboden. Um ans Wunsch-Ziel zu gelangen, mussten die Spieler nur das erste Wort entfernen. In Berlin bezieht Richard ein Luxus-Hotel, Robert zieht es vor, im Park zu schlafen. Auf der Bühne unterschieden sich die Quartiere aber nur vom Hörensagen. Wie alle Stationen der Gedankenreise bestanden sie aus Umzugskartons. Die wurden von den Spielern als Schauplätze eines Dramas aufgestapelt, das wie ein Boxkampf über zwölf Runden ging und mit jeder Runde verbissener wurde. Im letzten Bild trennten sich die anfänglichen Wunsch-Gefährten als Streithähne. Zurück blieb ein trügerisches Idyll aus Wäscheleinen, Vogelgezwitscher und einem Kuscheltier.
Adieu und Nach Berlin! wurden unter semiprofessionellen Bedingungen erarbeitet - sicherlich ein Grund dafür, dass sie eine entsprechende Handschrift tragen. Die übrigen Gastspiele entstanden in schulischen AGs, die in der Regel von Pädagogen angeleitet werden - was eine entsprechende "Handschrift" zumindest befürchten ließ.
Dem didaktischen Klischee am nächsten kam Bombenwetter aus Wolfenbüttel, wo man als Figuren Schüler und als Ort ein Klassenzimmer gewählt hatte. In dem wurde zwischen Krieg und Frieden alles angesprochen, was eine engagierte Jugend bewegt. Form erhielt der bunte Themen-Strauß durch Lessings Nathan, Einheitskostüme und chorische Passagen, die den Konflikt von Individualität und Konformität als Gemeintes erahnen ließen.
Anders überambitioniert geriet das Stück 1984 aus Stralsund. Um die bedrückende Atmosphäre des Romans auf die Bühne zu übertragen, standen drei große Video-Leinwände bereit. Die Handlung begann im Publikum, aus dem sich identisch gekleidete Spieler erhoben, deren Gesichter hinter identischen Masken verborgen waren. Die plausible Grundidee wurde karikiert durch die Unfähigkeit der Darsteller, die Figuren durch differenziertes Spiel unterscheidbar zu machen. Dass sie zu diesem Zweck farbige Bauchbinden trugen, zeugt von Problembewusstsein.
Wie schwer Wollen und Können ins Gleichgewicht zu bringen sind, war allerdings schon auf dem "großen" Theatertreffen zu erleben. Den jugendlichen Gastspielen kann man allerdings zu Gute halten, dass sie alle ein Profil zeigten. Dazu mag die Selbstbescheidung beigetragen haben, sich nicht an klassischen Dramen zu versuchen. Genau das aber war die Teilnahmebedingung für das Schüler-Festival Schiller 05, das eine Woche zuvor statt gefunden hatte. Wie schwer die Aufgabe war, belegt der Umstand, dass sich nur zwei der dort gezeigten Arbeiten auch für das Theatertreffen qualifizierten. Eine davon legt allerdings nahe, dass der direkte Vergleich von Amateuren und Profis tatsächlich unfair wäre: Die Etablierten könnten alt aussehen.
Bei der genannten Inszenierung bestach bereits unbespielt die Bühne durch eine Gleichzeitigkeit von Klarheit und Befremden. Hinter der schwarzen Spielfläche stand ein zweietagiges Gerüst, das durch senkrechte Teilung zum Setzkasten mit vier Fächern wurde. Auf die verteilt saßen rücklings sechs Spielerinnen in schwarzen Hosen und weißem Hemd. Das optische Gleichgewicht geriet dezent ins Wanken, weil im Obergeschoss unter drei Körpern nur fünf Beine baumelten.
Die Jungfrau hieß das Gastspiel aus dem bayerischen Sulzbach-Rosenberg, und so unaufdringlich beredt wie das erste Bild waren auch die ersten Worte: Die ergingen in der Fremdsprache Französisch, zugleich Muttersprache der Johanna von Orléans. Schon in den ersten Sekunden des einstündigen Abends kündigte sich auf diese Weise an, worin das wahrhaft Meisterliche dieser Inszenierung bestand: Mit einfachsten Mitteln wie einem unsichtbaren Bein hoch poetische Bilder herzustellen, deren Gemeinsamkeit die Widersprüchlichkeit ist.
Denn widersprüchlich ist in der Tat eine Figur, die, einer göttlichen Berufung folgend, als junges Mädchen in den Krieg zieht und mit nur 19 Jahren im Bewusstsein stirbt, dass sich im Tod ihr Leben erfüllt. Dieses Bewusstsein befragte die Inszenierung zwar gekürzt, doch mit Schillers Sprache, die 200 Jahre nach seinem Tod dieselbe Mischung aus Befremden und Faszination auslöst wie das, was sie beschreibt.
Johannas Weg in den Tod beginnt auf leerer Bühne, deren Boden sich unvermittelt öffnet und ihre Geschwister entlässt. Die Kostüme zeugen von konträren Lebensentwürfen: Die Schwestern tragen Dirndl, Johanna ein weißes Gewand. Um dem göttlichen Ruf zu folgen, muss sie nur eine schwarze Hose überziehen. Der Kostümwechsel auf offener Bühne macht sie zum Teil der Truppe. Nacheinander übernehmen zwei andere Spielerinnen die Rolle der Johanna und führen das vermummte Heer in die Schlacht. Backbleche, die scheppernd auf die Bühne fliegen, verkünden den Schlachtbeginn. Der Kampf selbst jedoch findet lautlos statt, weil die Spielerinnen zum Schlag mit schweren Metallstangen zwar ausholen, die Bewegung kurz vor dem Aufprall aber stets unterbrechen.
Die herrenlose Königskrone am Gerüst geht trotzdem an ihren rechtmäßigen Besitzer, und mit Johannas Auftrag hat sich auch ihr Leben erfüllt. Schillers pathetischer Schluss geriet auf der Bühne denkbar leicht und spielerisch: Drei Spielerinnen legen die schwarzen Hosen ab und lassen im stilisierten Bild der Kreuzigung die Heilige Johanna des Anfangs auferstehen - nicht als historische Figur, sondern als heutiges Bewusstsein im Widerspruch zwischen Befremden und Faszination.
Dementsprechend, nämlich befremdet und fasziniert, realisiert der Zuschauer am Ende, dass das Kunst-Stück dieses Abends ausgerechnet Schülern gelungen sein soll. Ein Irrtum ist jedoch ausgeschlossen, denn dass die Beteiligten tatsächlich Amateure, das heißt, unroutinierte Liebhaber des Theaters waren, war hier wie nach jedem Gastspiel im Anschluss am Applaus deutlich herauszuhören: Dann brach sich hinter den Kulissen die Erleichterung Bahn - in einem kollektiven Freudenschrei.
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