Wie in der Fußballbundesliga hält sich auch in der ersten Theater-Liga der Personenkreis, der für Leitungsfunktionen infrage kommt, in überschaubaren Grenzen. Die wenigen Kandidaten lösen sich zumeist in einer Art Ringtausch ab, für den sich in beiden Fällen der Begriff Karussell eingebürgert hat. Die Regeln, nach denen es sich jeweils dreht, unterscheiden sich jedoch gravierend. Da ist zum einen die Frequenz: Kommen und gehen Fußballtrainer mitunter mehrfach pro Saison, können Intendanten in aller Regel einige Jahre arbeiten, ehe sie die Stadt oder, wie zuletzt Dieter Dorn in München, nur die Straßenseite wechseln und ein anderes Theater übernehmen.
Zudem kehren die "neuen Besen" im Theater entschieden gründlicher als im Sport. Während ein neuer Trainer von seinem Vorgänger den kompletten Spielerkader übernimmt, bringt ein neuer Intendant zumeist seine Mannschaft aus Schauspielern, Regisseuren, Bühnen- und Kostümbildnern sowie Dramaturgen von der alten Wirkungsstätte mit. Und weil sich mit der Belegschaft auch Spielplan und Spielweise ändern, wechselt mit der Leitung eines Theaters nicht selten auch sein Publikum.
Die Vorboten einer solchen Runderneuerung ließen sich letzte Woche in Berlin beobachten, wo am Maxim Gorki Theater Der zerbrochne Krug Premiere hatte. Kleists Lustspiel bezieht seinen Witz aus der paradoxen Konstellation, dass ein Richter einen Fall aufzuklären hat, an dem er als Täter beteiligt ist. Mehr als aus den Titel gebenden Scherben rührt seine Schuld jedoch aus dem Versuch, "so Schändliches" von Eve zu erschleichen, "dass es kein Mädchenmund wagt auszusprechen". Eves Verlobter Ruprecht befreit sie aus der misslichen Lage: Er stürmt in ihr Zimmer und schlägt den unerkannten Schatten mit einem Türknauf in die Flucht. An diesem nächtlichen Vorfall zerbricht neben dem Krug auch das Verlöbnis.
Vor Gericht will sich der Richter aus der Affäre ziehen, indem er das Recht sehr frei interpretiert. Grenzen setzen ihm sein zerschundenes Gesicht und der Gerichtsrat Walter, der just an diesem Tag aus Utrecht anreist. Und da der bedrängte Richter Adam heißt, das von ihm bedrängte Mädchen Eve, ist die Kriminalposse um einen zerbrochenen Krug zugleich die Umkehrung des biblischen Sündenfalls. Sein salomonisches Ende findet er in allgemeiner Versöhnung der Parteien. Nur der Krug bleibt ein Scherbenhaufen.
Das ist er auch in der Regie von Alexander Lang, der ansonsten so sorglos mit dem Stück umgeht wie dessen Hauptfigur mit dem Recht. Das zeigt sich nicht erst am geänderten Schluss. Für den nimmt im Buch Walter die Fäden in die Hand, weil der überführte Adam die Flucht ergriffen hat. Im Gorki-Theater drehen sich die Verhältnisse um, und der angewiderte Gerichtsrat (Klaus Chatten) nimmt Reißaus. So können die Dorfbewohner den Streitfall unter sich und nach Gutdünken regeln.
Wie der Abend diese eigentümliche Solidargemeinschaft bewertet, bleibt unklar. Das Bühnenbild von Stephan Fernau - ein unmöblierter Bretterverschlag, durch dessen Ritzen der Schnee rieselt - spricht eine Sprache, die mehrfach angestimmte Dorfhymne eine andere. Letztlich ist es jedoch egal, weil die zweistündige Aufführung so überdreht geraten ist, dass auch das originellste Ende sie nicht retten kann.
Wo Kleist die feine Klinge des Wortwitzes führt, greift die Regie zum Vorschlaghammer. Als erhielten sie statt Gage Kilometergeld, sind die Darsteller fast ständig in Bewegung, und trotz Klumpfuß beteiligt sich auch Richter Adam (Götz Schubert) an der sinnlosen Hatz über den löchrigen Boden. Und so gekonnt die Koloraturen von Eves Mutter Marthe (Rosa Enskat) sind - der Figur bekommen sie in etwa so gut wie dem Bauer Tümpel (Tim Hoffmann) das Strickzeug. Schlicht widersinnig gerät ausgerechnet Eve (Anna Kubin), mit ihr der gesamte Abend. Denn wer selbstbewusst genug ist, dem Richter vor die Füße zu spucken und ans Schienbein zu treten, wartet nicht das Fehlurteil ab, um den Namen des nächtlichen Besuchers preiszugeben. Und eine solche Eve macht mit dem Prozess um den zerbrochnen Krug auch die Inszenierung obsolet.
Dass der keine lange Laufzeit beschieden ist, stand jedoch schon vor der Premiere fest. Tragisch ist das allenfalls für die Schauspieler, die ab dem Sommer ohne Engagement dastehen, weil Volker Hesse, noch Intendant des Gorki, dann seinen Stuhl für Armin Petras räumt. Der ist neu auf dem Intendantenkarussell und muss sich eine Mannschaft erst zusammensuchen. Doch dass er vom Vorgänger mehr als die wenigen "Unkündbaren" übernimmt, ist nicht zu erwarten. Im Gegenteil: Längst hat er begonnen, Personal von Häusern abzuwerben, an denen er bisher als Gast gearbeitet hat.
Einige Kandidaten bestritten am Abend vor der Gorki-Premiere im Deutschen Theater die letzte Vorstellung von 3 von 5 Millionen, einem Stück zum Thema Arbeitslosigkeit, das Armin Petras inszeniert und unter dem Pseudonym Fritz Kater auch geschrieben hat. Wie stets zogen diese Namen auch zur Derniere ein Publikum an, das eine gute Generation jünger war als das im Gorki - und Petras dorthin folgen wird.
Das angestammte Publikum des Gorki-Theaters könnte den umgekehrten Weg beschreiten und sich im Deutschen Theater Kleists Lustspiel Amphitryon ansehen, das sich wie Der zerbrochne Krug durch einen sehr subtilen Witz auszeichnet: Jupiter persönlich setzt dem Feldherrn Amphitryon Hörner auf, und dessen Diener Sosias wird von Merkur grün und blau geprügelt. Für heillose Verwirrung sorgt der Umstand, dass die Götter in Gestalt ihrer irdischen Widersacher auftreten und deren Ehefrauen Alkmene und Charis daher nicht wissen können, dass sie es mit himmlischen Doppelgängern zu tun haben.
Diese verzwickte Ausgangslange, die mit den Worten "Ich" und "Du" auch Werte wie Treue sinnentleert, meistert der Abend souverän, indem er das Spiel ganz am Wort ausrichtet: "Es ist Nacht" steht über dem ersten Akt, und der Abend beginnt damit, dass Amphitryon (Samuel Finzi) das Licht ausschießt, damit Sosias (Sebastian Blomberg) in der Finsternis den Heimweg antreten kann. Erst bei der Zeile "Da zeigt sich unser Haus" geht im Saal die Notbeleuchtung an. So lassen sich die Schläge Merkurs (Alexander Khuon) nur erahnen. Doch wenn mit dem zweiten Akt der Tag anbricht, zeugt eine verbundene Nase von Sosias´ Blessuren.
Unspektakulär vollzieht die Bühne (Johanna Pfau) den Wechsel von Tag und Nacht: Eine Drehung um 360 Grad, und schon ist aus einem schwarzen Palast einen weißer geworden. In den kehrt Jupiter nun regelmäßig ein, um sich mit Alkmene (Anne Ratte-Polle) in ein Zimmer zurückzuziehen, das so rot ist wie ihr Haar. Bleich vor Wut ist hingegen Charis (Katharina Schmalenberg) auf ihren Mann, der die Kränkungen ausbaden muss, die Merkur ihr angetan hat. Auch für den berühmten Seufzer, der das Stück beschließt, findet der Abend eine elegante Lösung. Eine Drehung der Bühne lässt es wieder Nacht werden, so dass sich Amphitryon und Alkmene übersehen, obwohl sie nebeneinander stehen. Entnervt beendet Alkmene schließlich das Spiel und verabschiedet sich mit einem leisen "Ach" in die Kulissen.
Regisseur Stefan Bachmann meldete sich nach einer zweijährigen Schaffenspause mit dieser Inszenierung eindrucksvoll zurück. Vor der Auszeit war er Schauspieldirektor in Basel, und sollte er erneut eine Leitungsfunktion anstreben, wird er sich zunächst vor dem Karussell anstellen müssen. Aber da sich der Personenkreis, der dafür infrage kommt, in Grenzen hält, ist die Schlange davor nicht arg lang.
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