"Erzähl keine Märchen", "Mach kein Theater" - zwei in Metaphern gekleidete Verbote, die das Denken, Sprechen und Handeln an die Kette der Vernunft legen wollen. Wie wohl jedes Verbot zeugen sie vom uneingestandenen Respekt, wenn nicht gar Neid auf die Fähigkeit, anders denken, sprechen und handeln zu können, ohne deshalb unvernünftig zu werden.
Dass Märchen und Theater über diese Fähigkeit verfügen, erklärt, warum sie als abschreckende Beispiele Eingang in die Alltagssprache gefunden haben. Doch damit genug der Gemeinsamkeiten, denn die Fähigkeit äußert sich denkbar unterschiedlich: Auch ein Märchen, das nicht mit "Es war einmal" beginnt, spricht in abgeschlossener Vergangenheit an einem utopischen Ort, während das Theater stets im konkreten Hier und Jetzt handelt. Kurz vor Weihnachten und nahe dem 200. Geburtstag Hans Christian Andersens kamen die ungleichen Geschwister an der Berliner Volksbühne in Frank Castorfs Inszenierung der Schneekönigin zusammen.
Die Bühne von Bert Neumann ist ein riesiger Sperrholzkasten mit einer Öffnung im Breitwandformat, die den Blick auf eine Wohnung im Chic der sechziger Jahre freigibt. Unter einer niedrigen, braunen Decke steht rechts eine Polstergarnitur vor einer dunklen Holzvertäfelung, in der Mitte führen ein Durchgang zur Waschküche und eine Treppe ins Freie. Links schließt sich eine Klinkerwand mit einer kleinen Nische an, in der neben blütenlosen Grünpflanzen eine einzelne Rose steht. "Kay?", ruft die Schneekönigin (Jeanette Spassova) fragend in den Raum. "Nein!", behauptet Herbert Fritsch, als sich aus der Decke ein Scheinwerfer löst und direkt vor ihm zerbirst. "Damals", raunt der Gemeinte und zieht die Glassplitter aus Auge und Brust.
Ein Wort genügt der Inszenierung, um eine Vergangenheit zu etablieren, von der aus sich das Märchen im Präsens erzählen lässt. Jetzt muss sich Birgit Minichmayr nur von der Couch erheben, um als Gerda Zeugin zu werden, wie die Splitter eines Spiegels in Auge und Herz des Kleinen Kay (Alexander Scheer) dringen und ihn ins eisige Reich der Schneekönigin verschlagen. Von dem Wunsch beseelt, ihren Spielkameraden zu befreien, verlässt Gerda ihre vertraute Umgebung. Die Gefahr wäre groß, sie dabei aus den Augen zu verlieren. Also wird Gerda nicht in eine ihr fremde Welt geschickt - die Welt, in der die Naturgesetze außer Kraft gesetzt sind, kommt zu ihr.
So sinnvoll diese Einladung ins Theater ist - sie hat ihren Preis, wenn Schneestürme und Überschwemmungen die Bühne heimsuchen, das Räubermädchen (Irina Kastrinidis) ihre Ziegen mitbringt und mit Kragen (Herbert Fritsch) und dem Agenten des Schattens (Volker Spengler) Figuren aus weiteren Märchen Andersens in die gute Stube einfallen. Die ist bald so ramponiert, dass Kays Mühen, das Wort "Ewigkeit" zu buchstabieren, wenig verwunderlich sind. Den Fängen der Schneekönigin entkommt er gleichwohl - wenn auch in Gestalt einer Nacktschnecke. Dass Gerda dennoch den "alten Gesang" vom Christkindlein anstimmt, in dem sich der kindliche Glaube erhält, geht im allgemeinen Tohuwabohu fast unter. Das Märchen von der Schneekönigin ist damit trotzdem zu Ende.
Anders die Inszenierung. Die hat in diesem Moment exakt ihre Halbzeit erreicht - und ist zugleich an ihren Anfang zurückgekehrt: eine Wohnung im Chic der sechziger Jahre. Nur ist die inzwischen unbewohnbar geworden. Die Decke hat sich in ihre Bestandteile aufgelöst und liegt mitsamt der abgerissenen Wandvertäfelung über dem schneebedeckten Fußboden verstreut. Darunter ist mit der Rose auch die Liebe begraben, für die sie als Metapher in der Nische stand.
Meine Schneekönigin lautet der vollständige Titel des Abends, der sich nach Abschluss des Märchens jenem Ich widmet, für das stellvertretend das besitzanzeigende Fürwort steht. Der Text dazu speist sich vor allem aus biografischen Aufzeichnungen Andersens, und der Scherenschnitt, der statt der Holzvertäfelung sichtbar wird, zeigt sein Konterfei. Doch sind es auch Andersens Zahnschmerzen, die Herbert Fritsch ein ums andere Mal beklagt? Oder leidet der Hans des zweiten Teils noch unter den Erlebnissen, die sein Alter Ego Kay im ersten durchmachen musste? Der wird jetzt Rudi gerufen und eröffnet die Nach-Märchen-Zeit mit Jimmy Hendrix´ Song If 6 was 9, einem Lied über die strikte Weigerung, das Leben anderer zu kopieren.
"Mach kein Theater". Ganz schuldlos ist das Theater nicht, dass es als abschreckendes Beispiel Eingang in die Alltagssprache gefunden hat. Allzu oft beschränkt es sich darauf, das Leben anderer zu kopieren - oder gar deren Tod. Die Vortäuschung falscher Tatsachen ist jedoch eine zu verbreitete Fähigkeit, als dass sie irgend Respekt oder gar Neid abnötigen könnte. Der Strang, der den Theatertod glaubhaft machen soll, endet nicht am Genick, sondern an einem Korsett, das der Schauspieler unter dem Kostüm trägt.
Um nicht zum Kopisten zu werden und die Schlinge abzunehmen, an der er von Andersens Konterfei baumelt, muss Alexander Scheer sich also ausziehen. So gerät auch der blaue Fleck in den Blick, der seinen Oberschenkel ziert. Der Nachweis körperlicher Arbeit ist nicht der einzige Effekt der männlichen Nacktheit. Die lässt Birgit Minichmayr, die längst nicht mehr Gerda heißt, fast züchtig gekleidet wirken, auch wenn sie seit fast drei Stunden in Höschen und High-Heels über die Bühne stolpert.
Doch obwohl sich auch Herbert Fritsch der Kleidung entledigt hat, hat Hans nur einen Wunsch an das Mädchen, dem er im Puff gegenübersitzt: "Immer wieder versuchte ich, mit ihr ins Gespräch zu kommen", erinnert er sich frontal ins Publikum, ehe über ihm und einem unbewohnbaren Zuhause das Licht ausgeht. Ein allzu frommer Wunsch? In Andersens Schneekönigin erfüllt sich die weihnachtliche Frohe Botschaft mitten im Sommer. Aber die Schneekönigin ist ja auch ein Märchen.
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