Mit seiner Wiederwahl im Herbst strich Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit den Posten des Kultursenators und übertrug die Aufgaben sich selbst. Weil diese Doppelfunktion einen der wichtigsten Standortfaktoren der Hauptstadt zu schwächen drohte, war die Skepsis allenthalben groß. Mitte Januar gab Wowereit nun die erste wichtige kulturpolitische Entscheidung bekannt, die er - unterstützt durch seinen Staatssekretär André Schmitz - getroffen hat, und diesmal überwog die Erleichterung: Neuer Intendant des Deutschen Theaters in Berlin wird im Sommer 2009 Ulrich Khuon, derzeit Leiter des Hamburger Thalia Theaters.
Diese aktuell wichtigste Personalie des deutschsprachigen Theaters war mit Spannung erwartet worden, und abzüglich einiger unschöner Begleitumstände - in der dreijährigen Hängepartie wurden drei beteiligte Personen nachhaltig beschädigt - ist sie richtig, weil naheliegend: Wie der jetzige Amtsinhaber Bernd Wilms ist Ulrich Khuon ein Intendant ohne eigene Regieambitionen, der sich ganz auf die Rolle des Ermöglichers konzentriert und das Inszenieren Regisseuren überlässt, von denen einige schon jetzt an beiden Häusern arbeiten. Die sind zudem in etwa gleich groß, haben ein ausgeglichenes Ensemble von überragender Qualität, ein ähnliches Selbstverständnis und einen verwandten Spielplan mit einer Mischung aus Klassikern und zeitgenössischen Stücken, die ein bürgerlich geprägtes Publikum anlockt, ohne ihm nach dem Maul zu reden. Der Dank sind hier wie dort Auslastungszahlen um 90 Prozent.
Trotz der sich abzeichnenden Kontinuität in Programmatik und Ästhetik wird der Wechsel an der Spitze des DT jedoch nicht ohne tiefgreifende Veränderungen abgehen, denn mit einem neuen Intendanten ist stets ein größerer Personalwechsel in den künstlerischen Abteilungen eines Theaters verbunden. So nannte Khuon schon am Tag seiner Ernennung zwei Regisseure und zwei Dramaturginnen, die er mit nach Berlin bringen will; mit weiteren Mitarbeitern sei er im Gespräch. Gemeint sind vor allem Schauspielerinnen und Schauspieler, die nun einmal Herz, Seele und Rückgrat eines Theaters sind. Und nachdem erst vor einem guten halben Jahr drei Protagonisten das Thalia Richtung Berlin verließen, droht dem Ensemble bald ein weiterer Aderlass.
Wie groß der Umzugs-Tross schließlich wird, entscheidet sich erst in den nächsten Monaten. Fest steht jedoch schon jetzt, dass der Etat des DT nicht erhöht, es also auch keine zusätzlichen Stellen geben wird. Und so arbeiten einige der Angestellten dort ab sofort in Erwartung ihrer Kündigung. Dass in Hamburg bald neue gesucht werden, ist ihnen nur ein schwacher Trost: Dort muss - seit Mitte Januar die nun aktuell wichtigste Personalie des deutschsprachigen Theaters - zunächst ein neuer Intendant gefunden werden, der sie einstellen könnte. So löst die Berliner Entscheidung hinter den Kulissen einen Dominoeffekt aus, der sich quer durch die Republik ziehen wird und bei den Betroffenen, je nach beruflicher Perspektive, für Hoffen oder Bangen sorgt.
Einer jener Mitarbeiter, deren Wechsel in die Hauptstadt Khuon jetzt ankündigte, ist der Regisseur Andreas Kriegenburg. Als Oberspielleiter des Thalia hat er allerdings so viel Anteil am Renommee des Hauses, dass er durchaus auch ein potenzieller Nachfolger als Intendant wäre. Sollte er Khuon dennoch folgen, wäre es für ihn eine Rückkehr: Anfang der Neunziger arbeitete Kriegenburg einige Jahre fest in Berlin an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, und obwohl er dort schon vor dem Amtsantritt Frank Castorfs als Intendant inszeniert hatte, galt er bei Publikum und Presse schnell als dessen Kopist. Hausintern wusste man natürlich, wie absurd der Vorwurf war - und tat entsprechend wenig, um den Regierivalen zu halten. Über die Stationen Hannover und Wien landete der 2001 in Hamburg, und auch dort hat man sich mit seiner Mischung aus Realismus, poetischer Bildlichkeit und Melancholie lange schwer getan - und nun zwei Jahre Zeit, sich davon zu verabschieden.
Am Wochenende hatte die (vorerst) letzte Inszenierung Kriegenburgs am Thalia Premiere, und die weist ihn erneut als Unikat aus, dessen Wechselabsichten beim Publikum, je nach Wohnsitz, für Hoffen oder Bangen sorgt. Hexenjagd von Arthur Miller ist ein Stück, das aus einem konkreten historischen Anlass - der staatlichen Gesinnungsschnüffelei der McCarthy-Ära nach 1945 - einen konkreten historischen Fall untersucht: die Salemer Hexenprozesse von 1692. Im pubertären Überschwang brechen einige junge Mädchen mit gesellschaftlichen Zwängen und treffen sich nachts im Wald zum Tanz. Von der Gesellschaft zur Rechenschaft gezogen, erklären sie ihre Übertretung mit Hexerei - ein Verbrechen, das sich weder beweisen noch widerlegen lässt und dem sich deshalb jeder verdächtigt macht, der es bestreitet. Der erste Verdacht fällt auf die "Negersklavin" Tituba, die unter der Last des Vorwurfs wahllos Namen nennt und damit eine Welle der Denunziation auslöst, an deren Ende Hunderte Verhaftungen und Dutzende Hinrichtungen stehen.
Nun dürfen Aberglaube und religiöse Heuchelei des 17. Jahrhunderts als weitgehend überwunden gelten, und der ideologisch verbrämte Staatsmoralismus der USA ist heute wieder so gegenwärtig, dass er für die eher träge Kunstform Theater uninteressant ist. Zeitlos und für die Bühne unbedingt ein Thema ist hingegen die Triebfeder, die diesen Erscheinungen zugrunde liegt: kleinbürgerliche Ängste, die in gewalttätige Aggression umschlagen. Um diesen Un-Geist ohne allzu nahe liegende und deshalb unzulässige Aktualisierungen ins Zentrum zu rücken, lässt Kriegenburg den Abend mit einer Szene beginnen, von der bei Miller nur berichtet wird: dem nächtlichen Tanz im Wald. Weibliche Gestalten in weiten schwarzen Kleidern huschen wortlos über die kaum beleuchtete Bühne und erfüllen sich an herabhängenden Schlaufen ihren Wunsch "zu fliegen". Das arglose Treiben endet mit dem stumpfen Knall eines Bolzenschussgerätes, mit dem man gewöhnlich Schlachtvieh tötet, und gleißendes Licht fällt auf eine weiße Fläche, in deren Zentrum eine blutbeschmierte junge Frau in einem Wust aus Schlingen hängt, die eben noch Schaukeln bildeten. Dazu marschiert eine Schar Erwachsener in puritanisch strengen Gewändern auf, um schreiend und unisono Auskunft über das verwerfliche Tun zu verlangen.
Dieser Anfang enthält im Kleinformat die Strategie des Abends, die blutige Hexenjagd nicht einzelnen Personen anzulasten, sondern als Phänomen der Masse zu beschreiben, die zum Todfeind alles Individuellen wird. Ein Hinweis darauf findet sich schon im Programmheft, das die 20 beteiligten Schauspieler alphabetisch nennt, ohne ihnen Rollen zuzuordnen. Weil diese Anonymisierung nicht Attitüde, sondern Teil der Inszenierung ist, soll sie hier respektiert werden und statt einzelner Namen lieber keiner genannt sein. Denn auch auf der Bühne treten die Darsteller zumeist als Masse in Gestalt eines Chores auf, aus dem sich nur gelegentlich identifizierbare Individuen wie Richter, Kläger oder Angeklagte lösen, um nach so wenigen Sätzen wie möglich ins uniform gekleidete Glied zurückzutreten. Und statt von psychologischer Entwicklung der Figuren wird der Abend vom wiederholten Knall des Bolzenschussgeräts und harten Lichtwechseln strukturiert.
Spuren von Individualität schälen sich nur selten aus dem Einheitsschwarz der Kostüme (Andrea Schaad) und der strahlend weißen Bühne (Harald B. Thor) heraus: So in dem erfundenen Intermezzo Titubas, in dem die weiß geschminkte Schwarze sich für die Heimreise in die Karibik vermessen lässt - und erst im letzten Augenblick merkt, dass ihr statt des Koffers ein Sarg gezimmert wird. Oder am Schluss, als die Todeskandidatin Rebecca vom Ohrwurm schwärmt, der sie die ganze Nacht begleitet hat. "Da waren Sie noch nicht geboren", gibt sie dem Richter auf die Frage zu verstehen, aus welcher Zeit das Lied denn stammt. "2003, 4 oder 5", präzisiert sie, während vom Band ein aktueller Song Ben Harpers erklingt.
Mit dem letzten Satz ist der dreistündige Abend in der Gegenwart angekommen - und der eben noch tödliche Konflikt zwischen Masse und Individuum unvermittelt wieder offen. Einen Ausblick in die Zukunft wagt die Inszenierung nicht. Doch weil Melancholie stets auch ein utopisches Moment enthält, äußert das allerletzte Bild noch eine stumme Hoffnung: Der letzte laute Knall des Stücks, der bei Miller eine weitere Hinrichtung markiert, bleibt schon mal aus.
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