In der Schwärze der Nacht

Konflikte ohne Vorgeschichte Michael Thalheimer inszeniert am Hamburger Thalia-Theater Eugene O´Neill in der Absicht, sofort zur Sache zu kommen

Wohl kaum ein Drama von Rang wartet mit ähnlich detaillierten Regieanweisungen auf wie Eines langen Tages Reise in die Nacht von Eugene O´Neill. Vom Mobiliar über die Stimmung des Lichts bis zu den Büchern, die in zwei Regalen stehen, ist der Ort der Handlung - das Wohnzimmer eines Sommerhauses an der US-amerikanischen Küste - so akribisch beschrieben, wie es die Handelnden sind: Familie Tyrone, Vater, Mutter und zwei erwachsene Söhne, für die O´Neill Beruf, Alter, Kleidung, Körperhaltung, Seelenlage, typische Angewohnheiten und selbst die Physiognomie vorgibt, die sie als Nachfahren irischer Einwanderer ausweist.

Schauspieler zu finden, die den Figuren entsprechen, ist einigermaßen ausgeschlossen, und den Raum auf der Bühne nachzubauen hieße, sich in die abgeschlossene Vergangenheit des Jahres 1912 zu begeben, das für den Nobelpreisträger, als er das Stück knapp 30 Jahre später schrieb, erlebte Geschichte war. Wichtiger als die "werktreue" Umsetzung der Vorgaben ist es heute daher, ihren "Geist" zu erfassen, der so auf das Geschehen einwirkt, dass in der Familienähnlichkeit das Anderssein und in der Schilderung des Sozialen dessen Verfall deutlich wird: Seine Härte und Grausamkeit, die es auch gut 60 Jahre nach seiner Entstehung aktuell macht, bezieht das Stück erst daraus, dass es die menschlichen Abgründe nicht schlagartig, sondern schichtweise freilegt. Auf die Zeit vom Frühstück bis Mitternacht komprimiert, schildert es den Alltag einer Durchschnittsfamilie, der vermeintlich harmonisch beginnt und sich schleichend, aber unaufhaltsam, als ganz normaler Wahnsinn aus gegenseitigem Unverständnis, Ekel und Hass, Sehn- und anderen Süchten entpuppt.

Für das Hamburger Thalia Theater beschritt der Regisseur Michael Thalheimer nun den umgekehrten Weg und konzentriert seine Inszenierung ganz auf die unterste Schicht: die Härte und Grausamkeit. Dass die dadurch ihren Schrecken einbüßen, zeichnet sich früh ab. Der Wahnsinn ist jedenfalls schon vor Beginn des Abends entpuppt, und anfangen lässt Thalheimer ihn am Ende: in der Schwärze der Nacht. Da kein Vorhang die Bühne verbirgt, kann das Publikum bereits beim Einnehmen der Plätze die kleine Marienfigur an der Rampe und das Flaschenmeer auf dem Tisch erkennen, der inmitten der gähnenden Leere am hinteren Rand der Drehbühne steht. (Bühne Olaf Altmann) Wenn das Saallicht erlischt, bleibt es eine kleine Ewigkeit lang dunkel, bis im Dämmerlicht einer Glühbirne vier Personen in farblosen Kostümen (Barbara Drosihn) sichtbar werden: Ein Familien-Stillleben mit Whisky-Flaschen, vom Trost der Erlösung so weit entfernt, wie die Bühne es zulässt.

Wo schon das erste Bild wortlos zwar nicht jedes Detail, so doch im Grundsatz alles erzählt, besteht an familiärer Harmonie nicht einmal als Behauptung Bedarf. Als Mary Tyrone (Victoria Trauttmansdorff) sich aus dem Gruppenbild löst, befindet sich das Stück schon weit im ersten Akt und die Familie tief in der Krise, wie James Tyrones (Peter Kurth) unvermittelter Wutausbruch belegt. Das erste Streitgespräch führen er und sein ältester Sohn (Peter Moltzen) sicherheitshalber aus gebührendem Abstand. So haben sie nur abwechselnd Gelegenheit, am Tisch einen Whisky zu kippen.

Alkohol ist der einzige Bestandteil des Abends, der sich gegenüber der Vorlage vermehrt. Denn so leer wie die Bühne, so unbeschrieben bleiben die Figuren, weil ihnen durch rabiate Striche die Biografie und damit alles genommen wurde, was menschliche Abgründe erfordern. So gerät Eines langen Tages Reise in die Nacht zu einem zweistündigen Sprint, der allzu hurtig der finalen Krise im letzten Akt entgegenstrebt. Tyrones irische Herkunft, die für das Erleben bitterer Armut und unhinterfragter Religiosität steht, spielt bis dahin ebenso wenig eine Rolle wie die Tatsache, dass er mit seinem ältesten Sohn außer dem Vornamen und dem Beruf des Schauspielers allenfalls die gegenseitige Verachtung teilt. Und mit den Büchern wurde auch die Konkurrenz um die richtige Weltanschauung zwischen Tyrone und dem jüngeren Sohn Edmund (Hans Löw) von der Bühne verbannt, deren gelegentliches Rotieren Akt- und Zeiteinteilung ersetzt.

Auch für Tyrones penetranten Geiz, der ihn laut Text elektrisches Licht so streng rationalisieren lässt wie andere Formen der "Verschwendung", interessiert sich die Inszenierung so richtig erst, wenn die finale Krise erreicht ist. Dann jedoch ist es zu spät, weil sie mit der Vorgeschichte ihren Anlass verloren hat. Ohnehin wissen die Figuren schon zu viel voneinander, als dass sie sich noch unliebsame Wahrheiten an den Kopf werfen müssten. Jene, über die geredet wurde, hat die Regie regelmäßig so früh auftreten lassen, dass sie die nicht für sie bestimmten Worte zwangsläufig mithören mussten. Da Mary weiß, dass alle um ihren Rückfall wissen, muss sie ihre Morphiumsucht nicht mühsam kaschieren, sondern kann der Hysterie von Beginn an freien Lauf lassen. Der Vorwurf der Söhne an den Vater, sein Geiz sei am Los der Mutter schuld, zielt so oder so ins Leere, weil der allenfalls im Dämmerlicht der Glühbirne Thema wurde.

Das hat Folgen auch für den einzigen Konflikt, der im Laufe eines langen Tages Reise in die Nacht nicht eskaliert, sondern erst entsteht. Dass Edmund nicht an einer Sommergrippe, sondern definitiv an Schwindsucht leidet, hat er erst am Nachmittag erfahren. Das nächtliche Besäufnis mit seinem Vater mag dadurch motiviert sein, nicht jedoch die Angst, dass Tyrone das staatliche Sanatorium nur deshalb für das bessere hält, weil ein privates für seinen todgeweihten Sohn Verschwendung wäre. Als Jamie hereintorkelt, setzen die Männer Gelage und Schmähungen zu dritt und so exzessiv fort, dass sie schon schlafen, als Mary zur Geisterstunde die Bühne betritt und im Drogenrausch den Kindheitswunsch heraufbeschwört, Nonne zu werden. Auf den Umstand, dass sie dazu ihr Hochzeitskleid trägt, muss sie die Zuschauer nachträglich aufmerksam machen: Die Absicht kundzutun, auf dem Dachboden danach zu suchen, war ihr in der Hast der ersten drei Akte entfallen.


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