Unerschrocken kämpft die Jury des Berliner Theatertreffens für Einheitsästhetik - mit Erfolg: Besonders in diesem Jahr waren wir vor jeder Überraschung absolut sicher", wusste das Berliner Ensemble schon im April und erklärte seinen Mai-Spielplan kurzerhand zum "einzig wahren Theatertreffen". Nominiert wurden das Repertoire, wenige Gastspiele und, mitten im "falschen" Theatertreffen, eine Premiere.
Vor deren Beginn ist der Vorhang geschlossen, die Vorbühne leer. Erst wenn das Saallicht erloschen ist, werden im Schutz der Dunkelheit zwei Holzbänke und ein reich gedeckter Tisch aufgestellt, die sichtbar werden, sobald die Scheinwerfer aufflammen. Und obwohl der Vorhang nur einen Spaltbreit geöffnet ist, verwehrt ein Gazestreifen jeden tiefer gehenden Blick.
Die Geheimniskrämerei zu Beginn hat System, denn auch in den folgenden drei Stunden tut Thomas Langhoffs Inszenierung so, als würde sie Ibsens Wildente zum ersten Mal erzählen. Die stammt jedoch von 1884, und ihr "Plot", laut dem blinde Wahrheitsliebe töten kann, gehört zum Bildungskanon jedes Theatergängers. Entsprechend unglaubwürdig bleibt das Ringen um Glaubwürdigkeit, das die Regie trotz der Pause, die die mit edlen Requisiten und stimmungsvoller Musik erzeugte Illusion zwangsläufig zerstört, durchhält bis zum Schluss, an dem sich die kleine Hedvig (Christina Drechsler) erschießt, weil die moralische Rigorosität Hjalmar Ekdals (Johann Adam Oest) über väterliche Gefühle siegt.
Es entbehrt nicht der Ironie, dass sich die Inszenierung der Wildente jenes Mittels bedient, dessen Untauglichkeit das Stück behandelt. Folgen wie im Leben hat blinde Wahrheitsliebe im Theater glücklicherweise nicht. Doch ein Stachel im Fleisch der Politik, der das Berliner Ensemble laut Intendant Claus Peymann sein will, fühlt sich sicher anders an.
Anders als das Orakel des BE fällt auch der Rückblick auf das "offizielle" Theatertreffen aus: Eine Einheitsästhetik war nicht erkennbar, und Überraschungen gab es zuhauf. Dass die überwiegend unliebsam waren, verdankt sich jedoch nicht einem subjektiven Irrtum der Jury, sondern dem objektiven Zeitgeist, der das Theater auf künstlerisches Neuland führen will und dabei oft hinter das vermeintlich Alte zurückfällt.
Auf diesen Nenner lässt sich das Gros der Gastspiele bringen, auch wenn die eingesetzten Mittel denkbar verschieden sind. Sie reichten von Texten, die sich dem klassischen Drama verweigern, über Organisationsformen wie Co-Produktionen und Freie Gruppen, "Misch"-Genres aus Performance, Musiktheater und Tanz, bis zu Laien-Aufführungen. Und ohne Video kommt heute kaum ein Regisseur mehr aus. Die "Erneuerung" des Theaters geht jedoch einher mit der Unterwerfung unter ein Diktat, das unseren Fernsehalltag bestimmt: Gerade die ambitioniertesten Gastspiele dauerten kaum zwei Stunden, und die "Zumutung" hält sich in Grenzen, die späteres Abendessen nicht ausschließen.
Das Werk von Elfriede Jelinek ist ein absatzloser 160-seitiger Text. Das Wasserkraftwerk im österreichischen Kaprun bildet den historischen Hintergrund, vor dem "Heidis" Bergidyll in einer sprachlichen Analyse der Gewalt implodiert, die der "Aufbauleistung" zugrunde liegt. Die Uraufführung des Wiener Burgtheaters suchte ihr Heil auf einer überfluteten Bühne (Katrin Nottrodt), die von Leichenteilen bis zur Staudammattrappe allen erdenklichen Bombast auffuhr und selbst die New Yorker Twin-Towers zum Requisit erklärte. "Bemerkenswert" waren die Unbedarftheit, mit der Nicolas Stemann Das Werk auf die Seichtigkeit des Pop schrumpfte, und Libgart Schwarz, die in wenigen Auftritten als "Autorin" für deren Wortkaskaden die adäquate Bühnensprache fand.
Dass der Mangel an Geschichtsbewusstsein mit dem an Formbewusstsein nicht nur gern einhergeht, sondern auf gewisse Weise identisch ist, belegte ein Gastspiel, das laut Jury die "Grenze zwischen Realität und Kunst infrage stellt". Bereits unbesehen stellt sich ja die Frage, was "entgrenzt" von beiden übrig bleibt; das Gesehene bestätigte dann das Gesetz der Logik: nichts.
Dabei bot deadline im Bemühen um die Erneuerung des Theaterseiniges auf: Rimini Protokoll ist eine Freie Regisseurs-Gruppe, die in co-produzierten "Projekten" selbst verfasste Texte spielen lässt, deren Themen wahrlich nicht von Pappe sind - diesmal nichts Geringeres als der Tod, mit dem die sechs Laien-Akteure beruflich zu tun haben. Per Bild- und Tonkonserve zugespielt wurden zwei akut Betroffene, deren Krankheit den "Live"-Auftritt verbietet.
Der gute Zweck heiligt die Mittel, das scheint das Prinzip, nach dem das Unheil seinen Lauf nimmt: Auf einer Fläche, die trotz Microports nicht zur Bühne wird, sprechen "normale" Menschen "authentische" Sätze, die von der "Regie" bebildert werden: Der professionelle Trauerredner wird hydraulisch versenkt, um beim Ausheben seines Grabes auf die Knochen seines Uropas zu stoßen, und der Initiator eines kommunalen Krematoriums spielt verbal seine Einäscherung durch. Doch so aufgesetzt wie der Filzstift, mit dem die Leichenpräparatorin Schnitte in den Oberkörper ihres Mitspielers simulierte, geriet der Versuch, am Thema Tod das Sterben "durchzuspielen". Selbst wenn er bei fast allen der "Mama" gilt, wie die krebskranke Sterbebegleiterin am "Telefon" berichtet: Der letzte Atemzug ist auch im 21. Jahrhundert jene letzte Grenze, an der sich Kunst und Leben scheiden.
Dass auch im Alten "Neuland" steckt, bewies Jürgen Goschs Düsseldorfer Inszenierung von Gorkis Sommergästen. Wie das "Land", auf dem das Stück spielt, hat sich auch die Gesellschaft seit 1904 radikal geändert. Der Ruf nach einer "engagierten Kunst" sollte daher heute anders klingen als im vorrevolutionären Russland, selbst wenn er mit den "alten" Mitteln Raum, Zeit und Spiel ergeht - mehr hat auch der größte Theaterneuerer nicht im Köcher.
Die erste Reihe im Parkett ist für die Schauspieler reserviert. Von dort ist es nur ein Schritt bis in den geschlossenen Bühnenkasten (Johannes Schütz), der Gorkis "Sommerhaus" ersetzt. Da es an Zimmern fehlt, nehmen die Gäste an den Rändern Platz, wenn sie zwar auf der Bühne, doch nicht im Zentrum des Geschehens sind. Hinter ihnen entsteht derweil ein Spalt, der langsam zu einer schmalen Öffnung wird, die, von der Krone zur Wurzel, einen umgestürzten Baum freilegt.
Zugleich eröffnet sich die Möglichkeit, die Bühne zu verlassen. Wenn einer der Schauspieler auf einem Fahrrad zurückkehrt, hat sich auch die Perspektive verkehrt: Was eben noch die Innenansicht der Gesellschaft war, ist jetzt der Blick von Außen. Unter die doppelte Lupe werden auch die Zweierbeziehungen genommen. Jedem Anflug von Gefühl folgt sogleich sein Gegenteil, nicht als Dementi, sondern als Kommentar.
"Liebhaber der dramatischen Kunst" nennt Gorki die Figuren eines Stücks im Stück, mit denen er die Verlogenheit des Theaters parodiert. Im Programmheft sucht man sie zu Recht vergeblich, weil sich die Inszenierung als selbstkritischer Liebhaber erweist. Im Wissen um die Grenzen "engagierter Kunst" gilt ihr Engagement dem Abbau von Bühnenhierarchien: Die strenge Choreografie der Schauspieler wirkt wie Improvisation - und verhindert die Unterscheidung von Haupt- und Randfiguren in einem Ensemble, das sich diesen Namen redlich erspielt hat, wenn die rückwärtige Öffnung wieder zum Spalt wird.
Die letzte Minute vergeht schweigend, und wenn sich der Bühnenkasten schließt, kehrt auch der letzte Spieler ins Parkett zurück. Wer will, mag das Schlussbild als stummen Abgesang auf das Theater nehmen, das vor der "Undarstellbarkeit" der Gegenwart kapituliert. Doch außer den Fragmenten eines umgestürzten Baumes zeigt die Öffnung in der Rückwand auch zwei Zeiten an: die der "Kunst" und die des "Lebens", die knapp drei Stunden parallel verlaufen. Wenn sie wieder geschieden sind, ist es für ein Abendessen wohl zu spät. Im Gegensatz zu anderen Bauchschmerzen während des Theatertreffens sind diese jedoch höchst willkommen.
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