Insa und Lissie, beide um die sechzig, waren befreundet, bis Henrik Insa und die gemeinsame Tochter Elaine verließ und mit Lissie Timm zeugte, ehe er auch die sitzen ließ. An dieser unheilvollen Konstellation sind sämtliche Beziehungen zerbrochen: die der beiden Frauen zueinander und die der Kinder zu ihrem Vater. Der Bruch scheint dauerhaft, weil die durch Schicksal eng Verbundenen in zwei getrennten Welten leben. Lissie ist Architekturkritikerin und lebt in der Stadt, Insa ist nach der Wende mit Elaine ins Oderbruch gezogen, wo sie eine Pension betreibt.
Die Lebenslinien kreuzen sich erneut, als Lissie den Job verliert und aufs Land zu Insa fährt, deren Pension kaum mehr den Lebensunterhalt abwirft. Das Ende der Trostlosigkeit verspricht sich Insa von Marc, dem einzigen Stammgast, dem sie am nächsten Tag eine gemeinsame Zukunft antragen will. Den Sonnenaufgang erlebt Marc jedoch in den Armen Lissies. Und Elaine, die sich von ihrer Mutter so wenig lösen kann wie die von ihr, findet ausgerechnet in Timm einen Seelenverwandten, ohne dass die beiden von der Blutsverwandschaft ahnten.
Hieße der Schauplatz nicht Brandenburg, könnte man sich in der Welt Rosamunde Pilchers wähnen, und mit deren seichten Seelendramen hat das neue Stück von Botho Strauß tatsächlich viel gemein. Denkbar anders ist jedoch dessen artifizielle Sprache, die dem profanen Inhalt die Aura des Heiligen verleiht. Während der Blick aus nächster Nähe im Groschenheft zu Kitsch gerät, trotzt Strauß ihm durch denkbar größte Ferne metaphysische Dimensionen ab: Leben, wie er es schildert, ist von Verlust geprägt, und mit der Beschreibung dieses Verlustes ergeht stets die elegische Klage darüber.
Kitsch und Künstlichkeit, Profanes und Transzendenz - auch auf der Bühne des Berliner Ensembles liegen sie direkt nebeneinander. Hinter dem Portal öffnet sich ein schwarzer Raum, dessen rosafarbene Spielfläche sich wie von Geisterhand füllt und leert, um mit wenigen Requisiten und unzähligen Neonröhren Orte wie eine Landstraße, einen Sportplatz oder ein Museum zu markieren, dessen Exponate eine entmenschlichte Zukunft prophezeien. Am linken Bühnenrand aber steht eine riesige grüne Topfpflanze und am rechten ein geblümtes Sofa, das immer dann vor einen geblümten Vorhang an die Rampe rollt, wenn die Handlung in Insas Pension spielt. Und nicht nur in diesen Szenen, in denen Platzgründe anderes nicht zulassen, muss sich die elaborierte Kunst-Sprache mit dem Rampenspiel des Boulevards vertragen.
Dass die Inszenierung Gegensätze ausspielt, statt sie zu eliminieren, geschieht nicht gegen, sondern mit dem Stück, dessen Titel Die eine und die andere nicht nur für die Rivalität der beiden Hauptfiguren, für die Rivalität zwischen trister Gegenwart und einer als glücklich erinnerten Vergangenheit, für die einer trostlosen Zukunft mit der Zuflucht im Übersinnlichen steht. Er beschreibt auch die beiden Hauptdarstellerinnen, die vor mehr als vierzig Jahren zum ersten Mal und dann über dreißig Jahre lang gemeinsam in Bremen, Zürich und Berlin auf der Bühne standen, bis beide das Ensemble der Schaubühne verließen, als aus dessen Torso die "neue Schaubühne" gegründet wurde. Für Jutta Lampe und Edith Clever hat Botho Strauß das Stück geschrieben, und mit ihnen hat es nun Luc Bondy im Bühnenbild von Karl-Ernst Herrmann inszeniert.
Fünf, mit dem Dramaturgen Dieter Sturm gar sechs Namen, die zugleich für ein wesentliches Kapitel Theatergeschichte der alten Bundesrepublik stehen. Als wolle er die damit verbundene Erwartungshaltung unterlaufen, besetzte Bondy die Frauenrollen anders, als von Strauß vorgesehen: Edith Clever spielt Insa und Jutta Lampe Lissie.
Das erste Bild des dreistündigen Abends gehört jedoch der Jugend, die schon Ende zwanzig ist und sich in einem Kaufhaus zum "Ausverkauf" trifft. So hat Strauß die Szene betitelt, was mehr als die Waren die Werte meint, deren Verlust die Generation der Kinder daran hindert, ihr "Wesen" zu entdecken. Als "Dingmenschen" erleben sie sich allenfalls im körperlichen Schmerz, um den Elaine (Dörte Lyssewski) förmlich bettelt und der ihr doch kein Gefühl entlocken kann. Das vermag erst Timm (Sebastian Rudolph), der ihr im Kaufhaus begegnet und anders ist, weil er weiß, was er sich wünscht: eine Strickmütze für den Sommer und seinen Vater. Dass die Verwandtschaft der Geschwister mehr die Seelen als das Blut betrifft, teilt die Inszenierung fast beiläufig mit, indem sie beide in braune Lederkleidung steckt (Kostüme: Rudy Sabounghi). Und dass Elaines martialisches Passions-Gebaren Schutzbehauptung ist, verdeutlicht das nächste Bild, in dem sie mit einem geblümten Rock, hochgestecktem Haar und einer Brille zu Hause sitzt und an Timms Mütze strickt.
Elaines Zuhause ist das Reich Insas, die auf einem Gymnastikball thront, Wein trinkt und im Modus des Irrealis verpasssten Gelegenheiten nachtrauert. Dass sie nicht altern will, bestätigt ihre Kleidung, die eher ihrer Tochter angemessen wäre. "Mein Herz gehört euch, ihr Vielen!", richtet sie sich in direkter Rede an Freunde und Gäste, die schon seit Jahren nicht mehr kommen. Insas Selbstmitleid verkehrt Edith Clever ins Gegenteil, indem sie die Worte gestenreich direkt an der Rampe und mit Blick ins Publikum spricht. Das Zitat des Boulevards wird zum Vollzug der Sprachkunst einer Schauspielerin, die Konsonanten wie aus Marmor meißelt und Vokale mit den Augen formt, die bei hellen Lauten schmale Schlitze und bei dunklen große Löcher werden.
"Stöööre ich?" Mit dieser Frage, von Botho Strauß für Edith Clever mit drei Umlauten notiert, tritt in Insas "Lebensfeindin" zugleich eine rivalisierende Spielweise auf: Lissie, die dank schwarzem Hosenanzug und festem Schuhwerk sachlich und geerdet wirkt, wird gespielt von Jutta Lampe, deren leise Sprache, gepaart mit Bewegungsarmut, der Figur jene überspannte Empfindsamkeit gibt, die vom "Typ" her Insa zusteht.
Die Besetzung "gegen den Strich" macht die beiden Rivalinnen von der ersten Begegnung an zu jenen Komplementärfiguren, zu denen sie im Text erst durch das bedeutungsschwere Schlussbild werden, wo sie Rücken an Rücken sitzen und darüber räsonieren, dass alles ganz anders hätte kommen können. Dank zweier grandioser Darstellerinnen, deren rivalisierendes Spiel sich komplementär ergänzt, konnte Bondy diesen Schluss getrost streichen. Das letzte Wort hat so Timm, der den endgültigen Verlust seines Vaters sachlich konstatiert: In Elaine hat er eine Verwandte nicht nur dem Blute nach gefunden, und eine Strickmütze für den Sommer hat er inzwischen auch.
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