Selten war es zu Beginn einer Aufführung so lange dunkel wie beim Gastspiel von 4.48 Psychose, dem letzten Stück der Engländerin Sarah Kane, die sich noch vor der Uraufführung das Leben nahm. Nach einer kleinen Ewigkeit wirft ein Spot sein fokussiertes Licht auf die Bühne im Haus der Berliner Festspiele. An der Rampe steht eine Frau in schwarzen Schuhen, schwarzer Lederhose und blauem T-Shirt. Die halblangen roten Haare sind zu einem Zopf gebunden, die Arme hängen kraftlos herunter, die Hände deuten Fäuste an.
"Sie haben viele Freunde", tröstet eine männliche Stimme aus dem Hintergrund. Den Sprecher selbst trennt ein Gazevorhang von der Frau im Licht. Als einzige Reaktion streckt sie den kleinen Finger der linken Hand für die Dauer eines Wimpernschlags, ehe sich die Faust wieder schließt und die Frau fast regungslos über den quälenden Seelenzustand monologisiert, von dem schon der Titel des Stücks erzählt. Die in Inhalt wie Umfang ungeheure Textmasse spricht sie auf Französisch. Da nur wenige Sätze in deutscher Übersetzung eingeblendet werden, garantieren weder vertraute Sprache noch vertrautes Spiel Verständnis: Statt des Sinns der Worte betont die Frau deren Rhythmus, indem sie Vokale dehnt und Sätze melodisch formt. Und außer dem gelegentlichen Zucken einen Fingers bewegt sich nur ihre Bauchdecke, die sich bei jedem Atemzug sichtbar hebt und senkt.
Für zusätzliches Befremden sorgt das wechselnde Licht, unter dem mit dem Schatten im Gesicht auch dessen Alter variiert. An diesem Gesicht saugt sich der Blick so lange fest, bis sich deren Trägerin vor dem inneren Auge bewegt. Real wird das erst am Schluss, wenn die Stimme im Hintergrund den Anfangssatz wiederholt. Auch dieses Mal ist die Reaktion der Adressatin minimal - und gerät nach fast zwei Stunden zu einem Exzess: Langsam lösen sich die Arme aus der Starre, die Hände öffnen und berühren sich, um kurz darauf in die Grundhaltung zurückzukehren. "Regardéz-moi!" hatte die Frau mehrfach angemahnt, auch auf Deutsch erging die Aufforderung "Schauen Sie mir zu!" Wer sich darauf einließ, konnte erleben, wie eine Darstellerin den Todeswunsch, den sie mit Worten formuliert, physisch dementiert.
Die Frau, der dieses Kunststück gelang, heißt Isabelle Huppert und ist eine der namhaftesten Schauspielerinnen Europas. Erwähnenswert ist das vor allem, weil die Inszenierung von Claude Régy mit anderer Besetzung kaum eingeladen worden wäre: spielzeiteuropa ist eine Veranstaltungsreihe, die den Berliner Winter durch kulturelle Glanzlichter aufhellen soll. Die Fähigkeit dazu besitzen auch andere, auch heimische Schauspielerinnen. Beweisen können sie es nur selten: Die Normalität auf deutschen Bühnen sieht halt anders aus.
Etwa so wie Mutter Courage, das am Wochenende im Berliner Ensemble Premiere hatte. Brechts Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg handelt von einer Marketenderin, die sich, weil der Frieden sie nicht nährt, mit dem Krieg arrangiert. Nicht einmal der Verlust ihrer drei Kinder bringt sie zu jener Besinnung, die das Stück beim Publikum erreichen will: Daraus zu lernen, dass die Courage nichts lernt. Vor dem Zweiten Weltkrieg geschrieben, wirkt das Stück im 21. Jahrhundert - naiv. Sein didaktischer Impetus ist jedoch dadurch gemildert, dass die Handlung in die Vergangenheit verlegt und durch Songs, Zwischentitel und "epische" Spielweise unterbrochen wird: Lernen braucht Denken, das durch jeden Naturalismus unterbunden würde.
Von dieser Dialektik kann eine Inszenierung nichts wissen, aus der mit dem Untertitel auch der Vergangenheitsbezug gestrichen ist. Der Abend dauert über drei Stunden. Grund ist der Umstand, dass der Hausherr Claus Peymann Sprechen und Handeln zu Tätigkeiten erklärt, die gleichzeitig auszuführen verboten ist. So hangelt sich der Abend von einer Tempoverschleppung zur nächsten. Schlagendstes Beispiel ist die Szene, in der sich die stumme Kattrin (Christina Drechsler) auf einem Dach verschanzt und die schlafende Stadt mit Trommelschlägen weckt. Trotz aller Inbrunst legt sie genügend Pausen ein, in denen die Soldaten ihre Sätze unterbringen können.
Gegen solchen Dilettantismus kann auch eine erfahrene Darstellerin wie Carmen-Maja Antoni nicht anspielen. Der Anflug von Witz und Schärfe ihrer Courage gerät schnell unter die Gummiräder ihres Wagens. Die hinterlassen ebenso wenig Spuren wie Regen- und Schneeschauer, die pünktlich zum Advent vom Bühnenhimmel rieseln. Beschaulich wie die Vorweihnachtszeit gerät der gesamte Abend. Ihn belanglos zu nennen wäre dennoch falsch: Wie der Applaus belegt, weiß das Publikum ihn durchaus zu goutieren. Und für ein solches Einverständnis ist Mutter Courage nicht naiv genug.
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