Im Zeitalter des Internets geht den traditionellen Medien zunehmend der Nachwuchs aus. Ob Zeitungen, Fernsehen oder Film, ob Unterhaltung oder Information: Wofür Ältere noch recht verlässlich Zeit und Geld investieren, das saugt die junge Generation längst gratis aus dem Netz. Die Aussicht, dort auf Theateraufführungen zu stoßen, strebt gegen Null.
Daraus die Antiquiertheit des Theaters abzuleiten wäre allerdings verfehlt, denn der Hauptgrund für seine Abwesenheit im Internet ist, dass es die Anwesenheit beider Seiten erfordert: jener, die spielen, und jener, die zuschauen. Gerade im elektronischen Zeitalter gründet darin die Wichtigkeit des Theaters als gesellschaftsbildende Institution. Um deren Besuch auch Jüngeren schmackhaft zu machen, unterhalten inzwischen die meisten großen Bühnen eine kleinere Spielstätte, in der unkonventionelle Stücke und Spielformen ausprobiert werden können, ohne das Stammpublikum zu verschrecken.
In der Berliner Volksbühne ist die Ausgangslage insofern anders, als dass Unkonventionalität hier die Regel ist und junge Menschen längst zum Stammpublikum zählen. Trotzdem unterhält das Haus gleich zwei Nebenspielstätten. Die größere wird von René Pollesch quasi im Alleingang bespielt, weil er zugleich als Regisseur selbst verfasster Texte fungiert, die sich aus Theorie und Subkultur, aus Filmen, Büchern, den Nachrichten und der Werbung speisen. Figuren existieren darin so wenig wie eine durchgehende Handlung und andere Sicherheiten, die man vom Theater kennt. Und weil sich in diesem Sprachgewirr nicht nur die Zuschauer, sondern mitunter auch die Schauspieler verheddern, kommt der Souffleuse regelmäßig eine Hauptrolle zu.
Mit diesem Programm betreibt Pollesch den Prater seit einigen Jahren und mit wachsendem Erfolg. Nun aber wird das kleine Haus bis Jahresende renoviert, und so zog er mit der jüngsten Premiere ins Stammhaus, das ein Vielfaches an Zuschauern fast. Selbst befristet ist ein solcher Umzug ein gewagter Schritt, weil von den Dimensionen des Raumes auch das Spiel nicht unbeeinflusst bleibt. Wohl deshalb hat Bert Neumann den Spielraum nicht auf die Bühne, sondern ins vordere Parkett gestellt, was die Entfernungen auf halbwegs vertraute Maße schrumpfen lässt.
Der Spielraum selbst ist ein opulent eingerichtetes Wohnzimmer mit Plüschsofa, Sesseln und einem Kamin. Darüber prangt eine Inschrift, die auf Englisch fragt: "Wie starb ich?" Dass sich hier ein Toter zu Wort meldet, ist nur eine mögliche Lesart der Frage, und die spielt an diesem Abend die geringste Rolle. Wichtiger ist jene Lesart, die das "ich" infrage stellt, und die ist für jede Arbeit Polleschs wesentlich. Denn dass er dem Publikum vieles vorenthält, was es vom Theater kennt, ist nicht Marotte, sondern Ausdruck einer Einsicht: "In Geschichten, die uns nahe gehen, kommen wir gar nicht vor", bringt Martin Wuttke sie auf den Punkt.
Eine solche Geschichte erzählt Florian Henckel von Donnersmarck in seinem Film Das Leben der Anderen, und schon der Titel bestätigt Wuttkes These, dass für ein "Ich" darin kein Platz ist, weder im Saal noch auf der Leinwand. Diesen Konflikt greift Pollesch auf und verpflanzt ihn zwei Mal: nach Schlesien, der Heimat der Donnersmarcks, und ins Theater. Denn auch das kennt die Tendenz zum Ausschluss der Beteiligten, und so steht über dem Abend kein Titel, der eine Geschichte anderer verheißt, sondern ein Bandwurm, der fiktive französische Filmtitel mit den Namen der Schauspieler kombiniert: Martin Wuttke, Sophie Rois, Caroline Peters, Volker Spengler, Christine Groß. Die Souffleuse Gabriela Anschütz ist nicht genannt, doch auch an diesem Abend hat sie viel zu tun.
Denn die Spieler müssen nicht nur Textmassen bewältigen, sondern auch Rollen, Kostüme und Geschlechter wechseln, auf einem imaginären Klavier spielen, durch den Kamin krabbeln, sich in Selbstmordabsicht aus dem Fenster stürzen oder, wie Wuttke, unsichtbar machen, weil seine Ganzkörper-Montur genauso aussieht wie die Wand (Kostüme Tabea Braun). Mit der Geschichte fehlt zwar die Notwendigkeit für dieses Tun - sinnfrei ist es trotzdem nicht: Wie das Spiel der Darsteller falsche Nähe durch Identifikation verhindert, so macht jedes Klappern von Türen und Fenstern ersichtlich, dass die opulente Bühnenwelt eine Attrappe ist, die durch hölzerne Streben gehalten wird.
Auf diese Weise gelingt es dem Abend, die Funktionsweise des Theaters aufzuzeigen - und das nicht als graue Theorie, sondern als Aufführung, die dank wilder Verfolgungsjagden, Wagnermusik und farbigem Rauch das falsche Pathos à la Hollywood gleich mit auf die Hörner nimmt. Das ungleich größere Publikum folgt dem heiteren, dabei hoch konzentrierten Abend mindestens so aufmerksam wie sonst im Prater.
Von dort stammt eine Gepflogenheit, auf die Pollesch auch im großen Haus nicht verzichten wollte: "Schluss mit dem Theater", fordert Spengler irgendwann barsch. Und weil bei den Donnersmarcks Papas Wort noch gilt, ist dann auch Schluss. Doch wie immer bei Pollesch liegt der Anfang erst eine gute Stunde zurück.
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