Sauber-Bleiben oder rein?

Heikle Stoffe "Das große Fressen" an der Berliner Volksbühne und die "Schmutzigen Hände" am Thalia Theater in Hamburg setzen auf ihre Weise die Debatte über das "versaute" Theater fort

Die große Bühne ist fast leer. Ganz hinten steht ein Flügel mit einem Hocker für den Pianisten (Sir Henry), der den zweistündigen Abend mit getragener Musik begleiten wird. Die vier Männer, die nacheinander auftreten und sich dem Publikum vorstellen, müssen ihre Stühle selbst mitbringen. "Lass mal anfangen", sagt Milan schließlich schnoddrig.

Als Das große Fressen von Marco Ferreri 1973 in die Kinos kam, hinterließ er eine Mischung aus Befremden und Faszination: Zwar verstieß der Film gegen alle guten Sitten, doch lieferte er die guten Gründe dafür gleich mit. Und obwohl er politisch gänzlich unkorrekt war, nährte er die Zweifel, ob es mit der Korrektheit seine Richtigkeit hat.

Um die Handlung des Films kurz zu fassen, bräuchte es Worte, die auch heute noch tabu sind: Vier gut situierte Herren ziehen sich in eine Villa zurück, um ein Wochenende lang allen erdenklichen leiblichen Genüssen zu frönen. Die Zutaten lassen sie vom Schlachter und vom Strich kommen, um sich so maßlos daran zu laben, bis sie der Schlag trifft. Skandalöser als die Orgie ist jedoch der Umstand, dass sie nach Regeln abläuft, die denen akzeptierter gesellschaftlicher Gepflogenheiten aufs Haar gleichen. Als Emanzipation von solchen Regeln erlebt daher jene Frau das Wochenende, die am Ende vier Liebhaber als Leichen vor sich hat: Sie ist keine Professionelle, sondern Lehrerin.

Letzte Woche ist dieser heikle Stoff im Theater angekommen, und wie vor 30 Jahren das Kino, so verlässt man heute die Berliner Volksbühne mit einer Mischung aus Befremden und Faszination. Doch wenn dieser Zwiespalt damals Ergebnis einer künstlerischen Leistung war, warum sollte es heute anders sein?

Vier Stühle bilden das Auto, das die Männer zur Villa bringt. Dort kommt ein Tisch mit Essen angerollt, dazu quillt weißer Schaum aus dem Boden und den Kulissen (Bühne Kathrin Brack). Doch von Fleisch wird zunächst nur gesprochen, und auch die Frauenbilder, die Milan, Herbert, Marc und Samuel beschwören, existieren einzig in ihrer Fantasie. Dass hinter ihnen eine Frau aus Fleisch und Blut steht, merken sie erst mit Verspätung. Almut heißt sie, und trotz Samuels Bedenken, ob es sich für eine Lehrerin schickt, wird sie zum Abendessen eingeladen. Das bildet den Auftakt des Gelages, zu dem sich die ersten Wurstwaren und drei weitere Frauen einfinden - von denen eine Frank heißt und ein Mann ist, der auch im richtigen Leben so heißt.

Dass die Schauspieler den Figuren außer Körper und Gesicht auch den Namen leihen, ist Prinzip einer Inszenierung, in der Dimiter Gotscheff mit anderen Mitteln den gleichen Spagat versucht wie schon mit seinen letzten Arbeiten als Regisseur: gesellschaftliche Verfallserscheinungen aufzuzeigen, ohne sich selbst und die Beteiligten auszunehmen. Dazu braucht es die Bereitschaft, sich Blößen zu geben.

Dazu besteht reichlich Gelegenheit, wenn am nächsten Tag die eigentliche Orgie beginnt. Dank Milans (Peschel) Kochkünsten werden die Speisen immer üppiger und raffinierter. Zwischendurch bleibt Zeit für einen Quickie im Schaum, der längst die ganze Bühne bedeckt. Und wird nicht ein Dessert erst richtig süß, wenn man es von der Brust des Partners leckt? Nur Samuel (Finzi) muss sich das Nutella selbst abwischen, weil Almut (Zilcher), die er zu heiraten gedenkt, mit Marc (Hosemann) und Herbert (Fritsch) beschäftigt ist.

Auch wenn die Profis (Anne Ratte-Polle, Rosalind Baffoe, Frank Büttner) längst abgerückt sind, ist Almut immer noch da. So wird sie Zeugin, wie Mann um Mann das selbst gesteckte Ziel - Tod durch Genuss im Übermaß - erreicht. Und während der Diener Michael (Klobe) die neue Lieferung Fleisch verbellt, schlendert Almut mit dem gesungenen Vorsatz von der Bühne, an ihrem Traum festzuhalten.

Worauf der zielt, bleibt ungesagt. So kann ihn jeder Zuschauer selbst mit Inhalt füllen - etwa dem, den Part der Hauptdarsteller zu übernehmen. Denn im letzten Bild räumen auch die Männer ihren Platz auf einer Bühne, die mit frischem Schaum für die nächste Orgie präpariert wird. Und wer wollte leugnen, dass neben Abscheu vor der prallen Sinnlichkeit auch Neid im Spiel ist?

Dem Publikum bleibt es erspart, diese Frage vernehmlich zu beantworten. Umso höher ist der Mut der Inszenierung zu bewerten, moralische Grundsatzfragen aufzuwerfen, ohne dabei zu moralisieren. Der Preis für den Tabubruch ist, dass sie als Paradebeispiel eines Theaters gelten kann, das derzeit auf breiter Front als "versaut" gebrandmarkt wird. Zugleich erfüllt sie jedoch das Hauptkriterium eines "sauberen" Theaters: Von den Dialogen bis zur Farbe der Kostüme hält sie sich genau an die Vorlage und kann daher das Gütesiegel "Werktreue" beanspruchen. Der widersprüchliche Befund macht die aktuelle Debatte nicht gerade übersichtlicher. Aber das könnte auch an der Debatte liegen.

Heikler Stoff ist auch Jean-Paul Sartres Stück Die schmutzigen Hände. Nach der Uraufführung 1948 musste sich der linke Philosoph von rechts bejubeln lassen, weil er die Frage, ob der Zweck die Mittel heiligt, zwar aufwarf, aber nicht entschied. Das tut auch die Inszenierung von Andreas Kriegenburg nicht, die wenige Tage vor dem Großen Fressen am Hamburger Thalia Theater Premiere hatte. Falsches Lob muss der Regisseur nicht fürchten, weil er mit Olga eine Randfigur ins Zentrum rückt.

Auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs tritt Hugo (Hans Löw), ein junger Mann bürgerlicher Herkunft, in die kommunistische Partei ein. Deren Führer Hoederer (Jörg Pose) plant ein Bündnis mit dem Klassenfeind. Für den Verrat will das Präsidium ihn ermorden lassen - für Hugo die Gelegenheit, sich zu beweisen. Übers Herz bringt er es aber erst, als er seine Frau Jessica (Judith Hofmann) und Hoederer im Bett erwischt. Der Mord aus Eifersucht ist nach wenigen Jahren Gefängnis gesühnt. Doch inzwischen ist die Partei auf Hoederers Kurs umgeschwenkt und verlangt von Hugo, den Auftrag zu vergessen.

Ob er auch dem neuen Auftrag gewachsen ist, soll erneut Olga (Paula Dombrowski) ergründen: Obwohl der Partei bedingungslos ergeben, hatte sie sich so lange für Hugo eingesetzt, bis er trotz seiner bürgerlichen Herkunft mit dem Mordauftrag "geadelt" wurde. Dessen nur indirekt gelungene Durchführung wird in einer Rückblende und auf einer holzvertäfelten, stark abschüssigen Bühne (Ricarda Beilharz) erzählt.

So doppelbödig wie der politische Konflikt sind auch die handelnden Personen: Hugo, der vor der Tat zurückscheut, weil Hoederer zwar trinkt, aber für Tugenden wie Güte steht; Jessica, die sich für Politik rein gar nicht interessiert, sondern endlich was erleben will - und Hugos Colt vor Hoederers Leibwächtern (Daniel Hoevels, Jörg Koslowsky) versteckt. Zu den Widersprüchen passt das Spiel, das großen Ernst mit feiner Komik paart. Nur Hoederers Vize Louis (Helmut Mooshammer) bleibt seiner krummen Linie treu und setzt nach der alten Wahrheit auch die neue mit der Waffe durch.

Doch da ist mit dem Ende der Rückblende wieder Olgas Zimmer erreicht, wo Hugo sich sein Urteil spricht: "Nicht verwendbar", resümiert er seine Weigerung, sich der neuen Doktrin zu fügen - woraufhin Louis ihn erschießt. Zuvor aber hatte Hugo Olga noch geholfen, über die dunkle Uniform ein weißes Hochzeitskleid zu ziehen. Dass in diesem Fall der Zweck die Mittel heiligt, bestätigt Olga mit einem Lied über den Vorsatz, der Liebe zu Hugo zu widerstehen. Der Bruch mit diesem ganz persönlichen Dogma kommt trotz Hugos Tod nicht zu spät, weil er für den Umgang mit politischen Dogmen nicht ohne Folgen bleiben kann. Denn wer wollte leugnen, dass da ein Zusammenhang besteht?


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