Schicksalhafte Verstrickungen

Keine Zeit für Entschuldigungen Die Premieren der Stücke "Lantana" und "Kassandra" am Hamburger Thalia-Theater

"Nein", erwidert Leon (Markus John) ebenso unaufgeregt wie bestimmt auf Johns (Jörg Pose) Frage, ob er seine Frau nie betrogen habe. Aber hat er denn nicht genau das getan, als er sich vor kaum zwei Stunden mit der Zufallsbekanntschaft Jane (Maren Eggert) in einem schäbigen Hotelzimmer einquartiert hat? Ohne dass einer der beiden ahnen konnte oder wollte, dass Leons Ehefrau Sonja (Judith Hofmann) und Janes Ehemann Pete (Norman Hacker) zur selben Zeit mit demselben Vorsatz im Zimmer nebenan abgestiegen sind?

Mit Lantana erlebte am vorletzten Wochenende im Hamburger Thalia-Theater ein Stück des Australiers Andrew Bovell seine deutschsprachige Erstaufführung, das ursprünglich Speaking in Tongues hieß. Zitiert der jetzige Titel mit dem Namen einer wildwuchernden Pflanze das undurchdringliche Dickicht, verweist der frühere auf ein "uneigentliches", weil subjektloses Sprechen, das nicht zwangsläufig Lüge, so doch in keinem Fall Wahrheit genannt zu werden verdient. In drei Bildern mit drei eher banalen "Fällen" beschreibt das Stück, wie die dornenreichen Ranken des Wandelröschens Lantana in die so entstehenden "Leerstellen" vordringen und schließlich sämtliche Figuren und Beziehungen bis zur Unkenntlichkeit verhüllen.

Der eiserne Vorhang hebt sich und legt zwei identische, holzgetäfelte Zimmer (Bühne Katja Haß) frei, in denen sich jeweils ein Mann und eine Frau treffen, um mit dem jeweiligen Partner jener Frau und jenes Mannes die Nacht zu verbringen, die im Nebenzimmer dasselbe vorhaben. Vor die Tat jedoch setzen Unsicherheit und Gewissen die Rechtfertigung, und so zeigt die Inszenierung von Stephan Kimmig keinen doppelten Seitensprung zweier Paare, sondern vier Menschen, die eher die Suche nach Wahrhaftigkeit als die nach einem Abenteuer in das Hotel verschlagen hat.

"Ich habe das noch nie gemacht", beteuert wer eigentlich zuerst? Doch wie die Frage, ob sie "es" machen werden, spielt das im Grunde keine Rolle, denn wie dieser wird jeder Satz zweimal geäußert. Von der Situation gleichermaßen überfordert, haben Frauen und Männer jeweils denselben Text, und was sie sagen, unterschiedet sich einzig im Wie des Sprechens. Eine Rolle spielt "es" erst, als die Hotelzimmer zur heimischen Wohnung beziehungsweise zur Bar geworden sind, in denen sich zuerst die Ehepaare, dann jeweils die beiden Männer und die beiden Frauen treffen, um aus den Worten des anderen vom Ureigensten erfahren - und mit dem Partner statt über sich doch nur über Dritte reden.

Das kaum zu durchdringende Geflecht aus Figuren und Konstellationen entwirren und so die Unklarheiten verklaren zu wollen hieße, von der Banalität der "Fälle", die es schildert, auf die des Stückes zu schließen. Doch auch wenn die Inszenierung vor dieser Gefahr in allen drei Teilen gefeit ist, kann sie sich nur im ersten davor hüten, den Figuren szenisch das beizulegen, was ihnen auf dem Papier fehlt: jenes um Mitgefühl heischende Pathos, das falsch ist, weil es der Inspektion der kleinbürgerlichen "Uneigentlichkeit" die tragische Schwere des bürgerlichen Trauerspiels verleiht. Im Wasser, das im zweiten Teil durch die nun löchrige Decke tropft und im dritten den Boden bedeckt, versinkt auch die formale Strenge des ersten Drittels, das ganz auf die Ausdruckskraft der Schauspieler vertraute. Und die präzise hergestellte Absichtslosigkeit etwa, mit der der Jane Maren Eggerts die Zigarette entgleitet, ist nicht nur weitaus kunstvoller, in ihr liegt auch weitaus mehr Wahrheit als in einem nassen Haarschopf, unter dem ein schmerzverzerrtes Gesicht sagen soll, wie sehr sein Träger leidet.

Halloween, das den Toten geweihte mystische Spektakel vor Allerheiligen, beging das Thalia-Theater in seiner Altonaer Dependance mit einer dreiteiligen "Antikennacht", bestehend aus den zwei Jahre alten Inszenierungen von Sophokles´ Elektra und Euripides´ Medea sowie einer Neueinstudierung unter dem Titel Kassandra. Sprach die Vorankündigung noch von Christa Wolfs Erzählung als Textgrundlage, so ist am Abend selbst nurmehr von einem in wenigen Probetagen entstandenen "Projekt" von Andreas Kriegenburg die Rede.

Das eine schließt das andere nicht aus, und was für Kassandra gilt, lässt sich von dem gesamten Zyklus sagen, für den Kriegenburg nicht nur das Einheitsbühnenbild entwarf, sondern außer bei Elektra auch Regie führte. Ihr verbindendes Element finden die drei Inszenierungen also nicht allein in der antiken Herkunft der drei Namensgeberinnen und deren schicksalhafter Verstrickung in die ewige Wiederkehr von Schuld, Hass und Rache, sondern auch im rot ausgeschlagenen, schmucklosen Quader, auf dessen Fußboden sich vier Schauspielerinnen legen, ehe sie zu einer gut einstündigen "Schmerzprobe" aufbrechen, um, wie es bei Christa Wolf heißt, Kassandras "Gedächtnis anzustechen".

Mit dem es seine Besonderheit hat, denn Kassandra, heimliche Hauptfigur schon von Kriegenburgs Münchner Orestie aus dem Vorjahr, ist ebenso gesegnet wie gestraft. Weil sie sich weigert, ihm zu Willen zu sein, verwandelt Apoll die Sehergabe, die er ihr verliehen hat, zum Fluch, dass niemand ihren Prophezeiungen Glauben schenken wird.

"Ich war/bin Kassandra." Schon beim ersten Satz können sich die vier Frauen nicht auf eine Zeitform einigen, um mit der ersten Erinnerung neben Vergangenheit und Gegenwart Kassandras eigentliche Domäne, die Zukunft heraufzubeschwören. Der Bericht über die Misshandlung und Vergewaltigung durch Ajax, die gewaltsame Verschleppung aus Troja durch Agamemnon, zu dem sich Verena Reichhardt erhebt, gerät zur Schilderung des eigenen Todes und damit zur radikalen Absage an die vage Hoffnung, "dass der Schmerz stirbt, eh wir sterben".

Doch bis dahin ist noch ein Stündchen Zeit, und nichts spricht dagegen, das Unmögliche zu versuchen. Also schneidet Victoria Trauttmansdorff verschiedene Augenpartien aus Hochglanzmagazinen aus und tackert sie sich in der Hoffnung auf die Stirn, dieses "zweite Gesicht" möge auf die Männer weniger abschreckend wirken als das von einem Gott verliehene. Leila Abdullah hingegen kriecht auf allen Vieren über die Bühne und zieht mit Kreide einen dicken Schlussstrich, der sie zu einem (selbstredend männlichen) Zuschauer führt, den sie vergeblich mit Kassandras Sehnsüchten bombardiert. Eine Podiumsdiskussion geht im vierfachen Stimmengewirr unter, und Doreen Nixdorfs Monolog über die eigentümliche Gewöhnung an das Grauen verebbt vor dem letzten Fragezeichen: Wer, wenn nicht Kassandra, kennt die Antwort? Das Leiden daran vermögen weder Schillers Gedicht noch ABBAs inbrünstig vorgetragener Hit Sorry, Kassandra zu mildern. Die Entschuldigung kommt zu spät, denn die Zeit ist abgelaufen. "Ich sehe nichts, da ist nichts mehr", verkündet die erschöpfte Seherin erleichtert eine zukunftslose Gegenwart. "Und gleich geht auch das Licht aus." Dunkel.


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