Schweigen wäre Gold

Medientagebuch Von Morgengrauen bis Mitternacht: ARD und ZDF gelingt es nicht, den Spaß am Sport zu nehmen

Am Sonntagabend geht der erste Jahrhundertsommer des Jahrtausends unwiderruflich zu Ende. Für diese Prognose sind weder ein Studium der Meteorologie noch ein lückenhaftes Gedächtnis erforderlich, aus dem der sonnige August die verregneten Vormonate verdrängt hat. Ein Blick ins Fernsehprogramm genügt, um den Einschnitt vorherzusagen, hinter dem sich, wie immer die Zeit danach klimatisch gerät, ein vierjähriges Tief auftut.

Exakt so lange wird es dauern, bis jene Konstellation wieder eintritt, die ein stabiles Hoch garantiert, das sich von der Fußballeuropameisterschaft im Juni über die Tour de France im Juli bis zu den Olympischen Spielen im August erstreckt. Die düsteren Aussichten werden auch dadurch nicht aufgehellt, dass für 2006 ein Zwischenhoch angekündigt ist, das auf die Tour de France die Fußballweltmeisterschaft folgen lässt: Jahrhundertträchtig sind nur jene Sommer, die von den Olympischen Spielen beschlossen und zugleich gekrönt werden.

Daran kann auch der Umstand nichts ändern, dass die Veranstaltung wie deren Übertragung Gründe zuhauf bieten, sie zu boykottieren. Dass Olympia in diesem Jahr "nach Hause" kommt, wird dadurch nicht wahrer, dass es uns mit dem Vorschlaghammer eingetrichtert wird. Mit dem "antiken Ursprung" der Spiele hat der Austragungsort Athen so wenig zu tun wie Peking, wo sich die "Jugend der Welt" in vier Jahren trifft. 1996, zum hundertjährigen Jubiläum der ersten Spiel der Neuzeit, hätte man diese Lüge wohl hingenommen. Doch obwohl sich Athen mit diesem Trumpf im Ärmel beworben hatte, wurden die Spiele nach Atlanta/USA vergeben, wo mit Coca-Cola der Hauptsponsor des IOC seinen Sitz hat. Deutlicher kann eine Veranstaltung nicht zu verstehen geben, wie weit sie sich von jenen "Idealen" entfernt hat, auf die sie sich gleichwohl beruft.

Solcher Geschichtsklitterung macht sich auch das deutsche Fernsehen schuldig, wenn auch in anglisierter Form: Pass the flame, fordert der "Olympia-Song" der ARD in der ersten Zeile auf, um in der zweiten der Hoffnung Ausdruck zu geben, durch die Weitergabe der olympischen Flamme die Welt zu einen - in Anbetracht der Tatsache, dass sich bei diesem Feuerzauber nicht um eine antike Tradition, sondern um eine Erfindung für die Spiele von 1936 in der "Reichshauptstadt" Berlin handelt, eine kaum verhohlene Drohung.

Nicht weniger problematisch gerät die Übertragung, die, im täglichen Wechsel von ARD und ZDF, vom Morgengrauen bis Mitternacht reicht. So viel Sport hat auch die größte Sportveranstaltung der Welt nicht zu bieten, weshalb ein Gutteil der Sendezeit mit "Hintergrundberichten", "Highlights" und dem Rückblick auf "goldene Momente" gefüllt wird. Zum Ausblick auf solche geraten die "Live"-Berichte von den Wettkämpfen. Sachkenntnis zumindest der gängigsten Sportarten lässt sich den Reportern und Moderatoren nicht absprechen; umso mehr fällt der Mangel an journalistischer Kompetenz ins Gewicht: In Verkennung ihres Berufes, der laut Übersetzung die Fähigkeit zum Berichten und die Tugend der Mäßigung erfordert, ergehen sie sich in geifernder Aufzählung deutscher Medaillenhoffnungen, um mit der Moralkeule auf sie einzudreschen, wenn "nur" ein fünfter Platz heraussprang. Jene wenigen, die mit einem Lorbeerkranz, hier aus Oliven geflochten, vom Treppchen steigen, werden durch die Studios gereicht, wo sie "Interviews" geben müssen, die ohne Fragen auskommen.

All das ist ebenso wahr wie bitter - die Glotze bleibt trotzdem an. Schließlich ist Fernsehen immer so, zumindest seit das öffentlich-rechtliche dem privaten den ersten Quotenrang abzulaufen versucht. Wann man ARD oder ZDF auch einschaltet, das Risiko, den Herren Kerner oder Beckmann zu begegnen, ist groß. Ärgerlicher als deren Omnipräsenz ist einzig die Tatsache, dass mit den Gesichtern auch die Sendungen immer ähnlicher werden. Die Sportberichterstattung bildet nicht nur keine Ausnahme, sie ist das Lieblingsobjekt einer Entwicklung, unter der das Vergnügen an der Tour de France auch im nächsten Sommer leiden wird. Und was ihm 2006 bei der WM im eigenen Land bevorsteht, daran sollte der bekennende Fernsehsportler lieber nicht denken.

Olympische Spiele jedoch unterlaufen diesen Trend allein durch die Menge der Sportarten. Zugleich machen sie die Schwierigkeiten kenntlich, die das Fernsehen mit jeder einzelnen von ihnen hat. Denn was mit Medienprofis wie Fußballern oder Radrennfahrern reibungslos funktioniert, weil beide Seiten gut davon leben, muss mit olympischen Halbamateuren zwangsläufig scheitern: Ihrem Sport gehen sie zwar mindestens so professionell nach wie ihre berühmten Kollegen, dem plötzlichen Interesse aber stehen sie meist so hilflos gegenüber wie die übertragenden Sender ihnen.

Dieser beiderseitigen Hilflosigkeit sind die peinlichen "Interviews" geschuldet, bei denen man oft nicht weiß, welche Seite sich amateurhafter anstellt. Anders sieht es mit der Übertragung der Wettkämpfe aus: Die Kommentare sind so weit vom tatsächlichen Geschehen entfernt, dass man als Zuschauer förmlich gezwungen ist, die fehlende Anleitung durch genaues Hinsehen zu kompensieren. Dadurch geraten unvermittelt Details in den Blick, die selbst die befremdlichsten Sportarten wie Schießen spannend machen - erst recht die vertrautesten wie Fußball und Radrennen.

So kritikwürdig die olympische Berichterstattung also ist - sie eröffnet dem Fernsehen eine Perspektive auf das, worin seine Zukunft liegen könnte: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold, weiß ein Sprichwort, das es spätestens für die WM 2006 beherzigen sollte. Für Olympia kommt die Erinnerung zu spät. Durchgeglotzt wird am Wochenende trotzdem. Und wenn am Sonntag mit der Abschlussfeier der graue Alltag wieder beginnt, hilft wohl nur eins: Umschalten und sich bis zum Morgengrauen in die Wiederholungen auf Eurosport einklinken. So lässt sich das vierjährige Tief schon mal um eine Nacht verkürzen.


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